Plötzlich lieber allein: Warum wird man introvertiert?

Einige Menschen lesen etwas über Introversion und stellen fest: Wow, das passt perfekt! Schon in ihrer Kindheit lassen sich Hinweise für die introvertierte Art finden. Alles fügt sich, als hätte es plötzlich Klick gemacht.

Aber das geht nicht allen Menschen so. Einige haben das Gefühl, sie sind erst introvertiert geworden. Im Alter, durch eine schlechte Erfahrung oder scheinbar einfach so. Was ist dran an der Idee, dass Introversion sich ins Leben schleicht?

Warum und wie wird man introvertiert?

Niemand wird wirklich introvertiert. Genetik und frühkindliche Erfahrungen bestimmen die Persönlichkeit zu stark, als dass sie irgendwann plötzlich komplett umschlagen könnte. Das Wesen eines Menschen kehrt sich nicht um – doch soziale Bedürfnisse verändern sich durchaus.

Deshalb meinen die meisten Menschen auch nicht wirklich, dass sie introvertiert werden. Oftmals steckt etwas anderes dahinter. Ein höheres Ruhebedürfnis kann auch die Folge von Erschöpfung sein. Manche Menschen waren vielleicht sogar schon immer introvertiert, doch haben sich als getarnte Extrovertierte gut durchgeschlagen.

(Übrigens ist es total in Ordnung, falls du dachtest, man könnte einfach so introvertiert werden, weil sich im Leben etwas verändert hat. Die Aufklärung zu diesem Thema ist leider noch nicht weit vorangeschritten. Deshalb gibt es noch Vorurteile, die sich hartnäckig halten und logischerweise zu Fehlschlüssen führen können.)

Im Alter introvertiert werden

Viele Menschen werden mit steigendem Alter ruhiger. Sie gehen nicht mehr so gerne auf Partys, schlafen mehr und wissen einen schönen Abend zu zweit eher zu schätzen als ein aufregendes Wochenende mit vielen Aktivitäten. Einige gehen genau den anderen Weg und werden immer aktiver.

Diejenigen, die ruhiger werden, sind dadurch nicht automatisch introvertiert. Körper und Geist brauchen im Alter einfach mehr Erholung – und das ähnelt nun mal der introvertierten Natur. Introvertierte nehmen die Welt sensibler wahr, verarbeiten Informationen anders und verlieren in der Gegenwart anderer Menschen Energie. All das ist verankert und wissenschaftlich mittlerweile gut nachweisbar. Etwas mehr Zeit in Stille oder allein zu verbringen, macht noch keinen Introvertierten. Die stürmischen Teenagerjahre oder wilden 20er sind kein Maßstab dafür, wie aktiv ein Leben sein muss.

Rückkehr zur introvertierten Art

Es gibt die Möglichkeit, dass „die Zeit“ wirklich Introversion hervorbringt. Allerdings war sie dann schon immer da. In der modernen Gesellschaft erleben introvertierte Menschen oft Nachteile oder erfahren sogar Ablehnung. Schon im Kindesalter lernen daher viele Introvertierte, ihre besondere Art zu vertuschen.

Ohne die nötige Aufklärung und das entsprechende Selbstbewusstsein verankert sich diese gefärbte Version der eigenen Persönlichkeit. Erst mit steigendem Alter lernen viele, wieder auf ihre wahren Bedürfnisse zu hören. Sie gehen offener damit um, dass sie mehr Ruhe brauchen und lieber tiefgründige Kontakte haben wollen, statt Small Talk zu machen. So fühlt es sich an, als wäre man introvertiert geworden. In Wahrheit hat man nur eine Weile die Rolle des Extrovertierten gespielt. Die meisten Menschen erkennen diesen Trugschluss mit der Zeit selbst.

Rückzug nach schlechten Erfahrungen

Ablehnung durch Freunde oder Fremde kann dazu führen, dass man sich der Welt entzieht. Statt sich Gespött oder gar Aggressionen auszusetzen, wird lieber ein einsames Leben geführt – oder immerhin ein zurückgezogenes.

Allerdings liegt die Ursache dafür dann nicht in der Persönlichkeitsstruktur. Stattdessen ist der Rückzug eine Reaktion. Wer eigentlich gerne unter Menschen ist, viele Freunde haben möchte und sich in Menschengruppen nicht generell unwohl fühlt, ist mit ziemlicher Sicherheit extrovertiert. Davor zu scheuen, weil man schlechte Erfahrungen gemacht hat, ist nicht das gleiche wie introvertiert sein.

Denn überwindet man das Trauma oder macht wieder positivere Erfahrungen, dann geht man wieder unter Leute. Es wird wieder viel Kontakt gesucht. Allein zu sein, scheint wieder die weniger interessante Option zu sein. Für Introvertierte bleibt das Bedürfnis nach der Zeit allein und den ruhigeren Momenten des Lebens hingegen immer erhalten.

mann recherchiert introvertierte menschen

Fazit: Nicht alle ruhigen Menschen sind introvertiert

Schüchternheit, Angst, Überforderung und Erschöpfung können genauso aussehen wie Introversion. Sie machen aus einem offenen und vielbeschäftigten sozialen Schmetterling vielleicht eher einen Einzelgänger – aber nicht auf Dauer oder aus Überzeugung. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, damit man lernt, sich selbst zu helfen. Menschen in ruhigeren Phasen ihres Lebens brauchen sich nicht sorgen, dass sie plötzlich introvertiert sind oder werden. Und Menschen mit negativen sozialen Erfahrungen müssen sich einfach wieder aufs Pferd schwingen, wenn sie so weit sind. Introvertierte Menschen brauchen wiederum keine 0815-Tipps zum extrovertiert werden. Sie müssen eher lernen besser mit ihrer sozialen Energie zu haushalten.

2 Kommentare

  1. Moin Jennifer,
    auch ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich dieses Thema „Menschen lesen etwas über Introversion und stellen fest: Wow, das passt perfekt!“ zu einem toxischen Trend entwickelt.
    Immer mehr Berater springen auf diesen Zug auf und wollen durch ihre urplötzliche Sinneswandlung anderen vermitteln, wie toll es nun ist, ein introvertiertes Leben zu führen.
    In diesem Beitrag wird diese These jedoch völlig widerlegt, da viele Differenzierungen mit einbezogen werden müssen und 0815-Tipps nicht genügen, wie „Jetzt bin ich introvertiert, alles ist gut“!

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