Die Gruppe der Hochsensiblen ist kategorisch missverstanden. Was daran liegen könnte, dass es schwer genug ist, überhaupt eine Gruppe aus ihnen zu bilden, die beschrieben und verstanden werden könnte. Was es noch schwieriger macht, das Verhalten von hochsensiblen Menschen zu definieren.
Trotzdem ist es möglich. Denn es muss nicht jede einzelne Gefühlsregung oder jeder einzelne Charakterzug beschrieben werden. Wichtig sind hauptsächlich die Verhaltensweisen, die für nicht-hochsensible Menschen ungewöhnlich wirken.
Da entstehen nämlich Reibungspunkte. Zum Beispiel, wenn sich ein Mensch einen einfachen Satz zu Herzen nimmt, der eigentlich mehr im Vorbeigehen gesagt wurde. Oder wenn jemand auf Stress mit Rückzug und Kommunikationsabbruch reagiert. Die sogenannten HSPs (aus dem Englischen: Highly Sensitive Person) haben Vorlieben und kämpfen mit Problemen, die sich stark auf ihre Hochsensibilität beziehen.
Vorurteile: Sind hochsensible Menschen Heulsusen?
Lügen und Wahrheit gehen Hand in Hand, wenn es darum geht, dass Hochsensible überempfindlich sind. Einerseits stimmt es, denn genau das macht sie ja aus: Reize werden schlechter gefiltert und wirken deshalb unmittelbar auf Körper und Seele. Auf der anderen Seite ist der Begriff Heulsuse aber negativ besetzt und impliziert, dass sich jemand einfach zusammenreißen müsste – und genau da liegt der Fehler.
HSPs ringen nicht um Aufmerksamkeit und wollen auch nicht bemitleidet werden. Das ist ein Vorurteil. Wenn Hochsensible stärker auf Veränderungen reagieren, schlechter mit Druck umgehen oder Gefühle nicht einfach abschütteln können, dann treffen sie keine Entscheidungen – ihre Körper reagieren einfach anders. Wer diesen Umstand ignoriert oder gar behauptet, das wäre Unsinn, wehrt sich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse.
Natürlich gehört zur Wahrheit auch, dass es Menschen gibt, die gerne bemitleidet werden. Oder sich sogar aktiv in schlimme Situationen stürzen, weil sie gerne Hilfe bekommen (meist unbewusst). Aber diese Ausnahmen haben nichts mit den Besonderheiten zu tun, die alle Hochsensiblen ausmacht.
Ein letztes Vorurteil ist, dass alle hochsensiblen Menschen introvertiert wären. Es gibt zwar große Überschneidungen (manche Forscher gehen davon aus, dass circa 70% der Hochsensiblen auch introvertiert sind), aber es gibt auch hochsensible Extrovertierte. Sie können mit ihrer Hochsensibilität zu kämpfen haben, da sie gleichzeitig ein großes Sozialbedürfnis befriedigen und Ruhephasen ermöglichen müssen.
Tatsächliches Verhalten von Hochsensiblen
Wenn es einfach wäre, hochsensible Persönlichkeiten allein an ihrem Verhalten zu erkennen, dann gäbe es deutlich mehr glückliche Menschen. Denn nicht nur andere würden die Hochsensibilität erkennen, sondern auch man selbst. Je früher man seine Besonderheiten und Bedürfnisse versteht, umso eher kann man ein Leben formen, das glücklich macht. Nur leider ist es nicht so leicht.
Alltag hochsensibler Menschen
Im Alltag erkennt man Hochsensible unter anderem daran, dass sie das Rampenlicht eher meiden. Denn im Rampenlicht ist es warm und grell – das sind Reize, die HSPs nicht mögen. In Wahrheit ist es natürlich eher so, dass im Mittelpunkt zu stehen eine Stresssituation ist. Nur wenige Hochsensible genießen das.
Ebenfalls typisch hochsensibel ist, dass HSPs äußerst empathisch sind. Sie nehmen Veränderungen in ihrer Umwelt schneller wahr. Sie erkennen die stille Trauer eines Freundes und die Spannung zwischen Liebenden. Sind sie selbst Ziel einer Veränderung – zum Beispiel von Kritik – sind sie meist schwer getroffen.
Ein erfahrener Hochsensibler wird nicht alle sozialen Termine wahrnehmen, die ihm offenstehen. Denn dann fehlen die wichtigen Erholungsphasen. Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass eine hochsensible Person ein Treffen absagt oder auf eine Party verzichtet.
Freundschaft mit hochsensiblen Menschen
Wenn HSPs Treffen absagen, sind ihre Freunde manchmal sauer. Oder enttäuscht. Im schlimmsten Fall fühlen sie sich sogar vernachlässigt. In einer guten Freundschaft muss daher klar sein, dass Erholungszeit nicht bedeutet, dass man jemanden nicht mag.
Bist du mit einem hochsensiblen Menschen befreundet, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn oftmals erkennt man, wenn eine hochsensible Person überfordert ist oder Ruhe braucht. In solchen Situationen kann man Hochsensiblen anbieten, ein Einzelgespräch zu führen, früher einen Abend zu beenden oder einfach still einen Film zu schauen.
Typische Verhaltensweisen von HSPs in Freundschaften: gut zuhören und mitfühlend reagieren. Hochsensible fühlen oft mit dir oder können sich zumindest gut in deine Situation hineinversetzen. Daraus folgt, dass sie dich nicht für deine Probleme oder Wünsche verurteilen. Hier zeigt sich aber auch deutlich, dass nicht alle HSPs gleich sind. Einige werden dir mit logischen und direkten Ratschlägen zur Seite stehen (siehe: INTJ Persönlichkeit), während andere dir emotionalen Beistand leisten und auf Umarmungen oder generell mehr Nähe setzen (siehe: INFP Persönlichkeit).
Hochsensibilität und die Liebe
In romantischen Beziehungen zeigen Hochsensible meist ähnliche tolle Verhaltensweisen wie in Freundschaften. Sie hören gut zu, verurteilen nicht und sind beeindruckend intuitiv. Gleichzeitig lieben sie häufig mit vollem Einsatz. HSPs erleben alles intensiver, auch romantische Gefühle.
Das kann aber auch zu Problemen führen. Denn auch Streits und Kritik werden heftig erlebt. Manchmal interpretieren Hochsensible etwas zu viel. Die Lösung dafür ist Kommunikation. Eine Beziehung zu einer hochsensiblen Person kann nur gelingen, wenn der Hochsensible weiß, dass er Fragen stellen muss, anstatt Schlussfolgerungen aus Gefühlen abzuleiten.
Es kann außerdem sein, dass ein hochsensibler Partner sich zurückzieht, um wieder Energie zu tanken. Das sollte nicht als Ablehnung verstanden werden, sondern als das, was es ist: Ein notwendiges Bedürfnis, das Erholung und Wohlbefinden ermöglicht. Auch von ihren Partnern brauchen HSPs meist ihre Pausen. Mehr dazu: Wie lieben Hochsensible?
Die besonderen Herausforderungen der Hochsensibilität
Es gibt ein paar Situationen, die für viele Hochsensible echte Herausforderungen sind. Für diejenigen, die auf Umweltreize besonders stark reagieren, sind beispielsweise Konzerte keine positive Erfahrung. Gerade direkt vor der Bühne ist es laut und unübersichtlich – eine extreme Stresssituation. Manche HSPs flüchten wortwörtlich von Konzerten.
Auch Konkurrenzsituationen sind nicht für jeden geeignet. Da HSPs intensiv erleben und fühlen, übergehen sie andere nicht gerne. Wollen sie aber trotzdem gewinnen, müssen sie viel leisten und vergessen schon mal, auf sich zu achten. Oftmals ist das Harmoniebedürfnis aber auch so groß, dass selbst bei Erfolg (z.B. einer Beförderung) ein schlechtes Gewissen aufkommt.
Hochsensible Menschen sind häufig das Ziel von Narzissten. Da diese alles auf sich beziehen, brauchen sie jemanden, der ihre Bedürfnisse ständig bedenkt. Einige HSPs sind dafür geeignet, weil sie auf kleinste Wesensveränderungen reagieren und ständig versuchen, Harmonie und Zufriedenheit auszulösen. Daraus entstehen leider toxische Beziehungen, da sich die Hochsensiblen praktisch selbst aufgeben, um dem Narzissten das Leben zu verbessern. (Wichtig: Toxische Beziehungen sind nicht nur Folge von Hochsensibilität oder Narzissmus, also ist es nicht richtig anzunehmen, dass alle HSPs Gefahr laufen, in solchen negativen Beziehungen zu landen.)
Was mögen Hochsensible nicht?
Es gibt einige Dinge, die hochsensible Menschen überhaupt nicht leiden können. Zum einen ist das natürlich die Reizüberflutung. Ständiger Krach, viele soziale Kontakte, grelle Lichter, unangenehme Gerüche, Streit – all diese Dinge treffen HSPs härter. Gerade eine Kombination mehrerer Faktoren kann schnell zu körperlichen Symptomen führen.
Du wirst Hochsensible außerdem als sehr kritisch gegenüber Ungerechtigkeit erleben. Die meisten hochsensiblen Menschen wollen fair sein und fair behandelt werden. Wenn sie in ihrer Umwelt Gerechtigkeit vermissen, wird sie das also stören. Damit einher geht, dass Heuchler bei Hochsensiblen keine Chance haben.
Konflikte belasten Hochsensible. Gut, jeder Mensch wird wohl Stress empfinden, wenn er sich mit Freunden, Familienmitgliedern oder Partnern streitet. Aber hochsensible Menschen mögen es wirklich nicht, wenn schlechte Stimmung herrscht.
Mit hochsensiblen Menschen kommunizieren
Auf keinen Fall solltest du hochsensiblen Menschen das Gefühl geben, dass sie weinerlich oder anstrengend sind. Leider passiert es immer wieder, dass die Empfindlichkeit von Hochsensiblen als Entscheidung wahrgenommen wird.
Sätze, die man zu Hochsensiblen nicht sagen sollte:
- Nun hab dich mal nicht so.
- Du übertreibst total.
- Warum bist du denn so empfindlich?
- Sei nicht so eine Heulsuse.
- Du willst doch nur Aufmerksamkeit.
Es ist für HSPs eine große Belastung, wenn ihre natürlichen Reaktionen und Bedürfnisse als Performance abgetan werden. Hochsensible Menschen können zwar einige Maßnahmen ergreifen, um die Effekte ihrer Hochsensibilität kleiner zu halten, aber sie können sie nicht abschaffen. So wenig wie du deine Augenfarbe wechseln kannst, können HSPs ihre Gefühle verändern.
Hochsensible haben eine gute Intuition und ein großes Harmoniebedürfnis – aber sie sind keine Gedankenleser. Somit musst du mit ihnen reden, wenn dir etwas nicht passt. Genauso musst du aussprechen, dass du sie liebst, sie dir wichtig sind oder du ihnen vertraust. Hochsensible stehen außerdem genauso wie Introvertierte auf tiefe Bindungen. Solltest du also an jemanden geraten, der hochsensibel ist, hast du möglicherweise einen Freund fürs Leben gefunden. Die paar extra Meter zu gehen, um richtig zu kommunizieren, ist es also absolut wert.
Fazit: Hochsensible sind auch nur Menschen
Unabhängig davon, ob du hochsensibel bist oder nicht, solltest du dich bei einigen Verhaltensbeschreibungen wiedergefunden haben. Das beweist: HSPs sind keine Aliens. Vielen merkt man ihre Hochsensibilität auch gar nicht an, weil sie sich den gesellschaftlichen Erwartungen angepasst haben oder weil sie sehr gut darin sind, ein ideales Stimulationsniveau in ihrem Leben zu schaffen. (Leseempfehlung: Menschen sind anstrengend – das wird man doch wohl noch sagen dürfen)
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass hochsensible Menschen nicht entscheiden, dass sie empfindlicher auf ihre Umwelt reagieren. Daher sollten sie dafür auch nicht verurteilt werden. Wer das Gespräch sucht, wird schnell erkennen, dass Hochsensible wundervolle Menschen sein können, wenn man sie zu schätzen weiß.