Introvertierten Selbsthass verstehen: Das große, alte Problem

„Ich hasse es introvertiert zu sein.“

Eine Aussage, wie man sie online zu tausenden findet. Und auch in der realen Welt hört man diesen Satz wieder und wieder und wieder.

Introvertiert zu sein, ist eine Schwäche – so nehmen es viele wahr, so wird es vielen auch beigebracht.

Doch sobald wir uns etwas näher mit dem Thema Introversion befassen, verschwindet diese Einschätzung ganz schnell. Aufklärung wirkt hier wahre Wunder. Also warum müssen wir immer noch über dieses Thema sprechen? Warum ist die Aussage „Ich hasse es introvertiert zu sein“ noch immer nicht in der Vergangenheit verschwunden?

(Hinweis: Dies ist das leicht abgeänderte Skript eines YouTube-Videos)

Gesellschaftliche Erwartungen

Beginnen wir mal dort, wo wir uns alle irgendwie einfinden müssen: in der Gesellschaft. Gesellschaftliche Erwartungen spielen eine große Rolle, wenn es darum geht, wie wir uns entwickeln. So sehr wir heutzutage auch Individualismus und persönliche Entfaltung fördern und fordern, am Ende des Tages sorgt unser Kulturkreis für eine gewisse Grundprägung.

An dieser Stelle ziehe ich mal „Still die Kraft der Introvertierten“ von Susan Cain heran. Wer Wanderlust Introvert schon eine Weile verfolgt, der weiß, dass ich dieses Buch nahezu jedem empfehle und es meinen eigenen Weg zur Akzeptanz meiner introvertierten Art gestartet hat.

In dem Buch beschreibt Cain unter anderem, dass es einst als löblich und gut galt, Zurückhaltung und Demut zu zeigen. Die Frage danach, was ein moralisch gutes Leben ist, war nicht nur für Philosophen wichtig – sondern für nahezu alle Mitglieder einer Gesellschaft.

Gut, seien wir ehrlich: Wirklich nett waren deshalb jetzt nicht alle. Aber zu übertreiben, sich ständig in den Vordergrund zu drängen oder laut zu sein, galt nicht gerade als erstrebenswert. Religion spielte hier natürlich auch eine große Rolle.

Und wie sieht es heute aus? Unsere Götter heißen heute Elon Musk, Taylor Swift und irgendwas irgendwas Kardashian. Reichtum zur Schau zu stellen, ist nicht nur in Ordnung, sondern wird geradezu erwartet. Reichweite im Internet bestimmt für viele den Selbstwert. An allen Ecken und Ende wird uns gesagt, wie wir charismatischer, durchsetzungsstärker und großartiger werden.

Ganz wichtig: Das heißt nicht, dass es keine ruhigen erfolgreichen Menschen gibt. Aber was wir in der Gesellschaft aktuell so richtig geil finden, ist laut und auffallend zu sein. Herauszustechen und sich auch bewusst herauszustellen, sorgt für Erfolg. Ob nun in einem kleinen Büro, in der Politik oder oftmals auch im Liebesleben.

Und Introvertierte haben damit große, große Probleme. Zum einen gibt es diejenigen, die sich weigern, da überhaupt mitzumachen. Aber selbst wenn man dazu bereit ist, das Spielchen mitzuspielen, muss man sich viel mehr anstrengen. Extrovertierte oder Menschen mit einem angeboren Hang zur Extravaganz machen das alles ganz nebenbei.

Ist es da wirklich ein Wunder, dass viele, vor allem junge Menschen sich wünschen, sie könnten auch so leicht den Mittelpunkt suchen, finden und für sich einnehmen? In vielerlei Hinsicht ist es nun mal leichter, wenn uns soziale Kontakte zufliegen und nicht etwa erschöpfen.

Ich weiß, ich hätte früher viel dafür gegeben, endlich nicht mehr introvertiert zu sein – und das sogar noch eine Weile lang, als ich verstanden hatte, dass Schüchternheit und Introvertiertheit unterschiedliche Dinge sind. Auf der anderen Seite sah das Gras nun mal viel grüner aus.

Schüchtern und introvertiert unterscheiden

Ginge es nur um die gesellschaftliche Erwartung, ich glaube, dann würden sich nicht annähernd so viele Introvertierte selbst hassen. Immerhin kommen die meisten von uns ja mal an dem Punkt an, an dem wir nicht mehr so viel darauf geben, was die Welt von uns erwartet.

Nur ist das ja noch das persönliche Umfeld. Und dieses persönliche Umfeld hat oftmals einen großen Denkfehler, den es an die Introvertierten weitergibt: Man erkennt den Unterschied zwischen einem Problem und einem Persönlichkeitsmerkmal nicht.

Schüchternheit und soziale Ängste sind ein Problem. Durch die erwartete Ablehnung sprechen schüchterne Menschen weniger, sie meiden soziale Interaktionen oder sie zermartern sich stundenlang das Hirn, nachdem sie etwas Dummes gesagt haben, an das sich niemand außer sie selbst noch erinnern kann. Hemmungen bestimmen das Leben schüchterner Menschen.

Schüchternheit ist also erlernt. Klar, manch einer neigt eher dazu. Aber wer in seiner Kindheit im Selbstbewusstsein bestärkt wird, wird wohl eher nicht schüchtern werden, und Schüchternheit kann man eben auch wieder ablegen. Durch eine Therapie, neue Freunde oder indem man positive Erfahrungen sammelt.

Aber wer introvertiert ist, der bleibt introvertiert.

In der Forschung ist man sich recht einig, dass sowohl genetische als auch frühkindliche Faktoren eine große Rolle spielen, wenn es darum geht ob wir introvertiert oder extrovertiert sind. Wie genau die Gewichtung von Genetik und Umweltfaktoren aussieht, wird noch heiß diskutiert.

Wer aber an dem Punkt im Leben ist, an der er seine Persönlichkeit hinterfragt, der ist eigentlich schon zu gefestigt, um noch radikal etwas am Temperament zu ändern.

Introvertierte haben eine natürliche innere Ausrichtung. Soziale Kontakte erschöpfen uns. Gedanken kreisen häufiger und länger. Reize werden oft schlechter gefiltert.

Und nichts davon muss ein Problem sein. Das sind lediglich Eigenheiten mit denen wir umgehen müssen – aber dazu später mehr.

Nun erst noch mal das Problem: Dadurch, dass schüchtern und introvertiert oft als Synonyme betrachtet werden, wird ja versucht, die ruhige Art zu korrigieren. Zu Hause, in der Schule, auf Arbeit – überall wird der Versuch gestartet, ruhige Menschen aus der Reserve zu locken unter dem Vorwand, dass das ja so besser wäre.

Oftmals steckt dahinter nicht mal ein böser Gedanke. Die Leute glauben, sie tun uns damit einen Gefallen. Oder sie haben noch nicht genug Empathie entwickelt, um zu verstehen, dass manche Menschen von Natur aus anders ticken.

Nur wird Schüchternheit in der Regel nicht durch mehr Druck verschwinden, sondern eher durch nachhaltige, kleine Veränderungen durch die betroffene Person selbst. Und richtig schlecht ist es, wenn jemand eigentlich nicht schüchtern ist, sondern einfach nur introvertiert, denn:

Wer einem introvertierten Menschen sagt, er sei nur schüchtern und das sei ein Problem, der macht diesen Menschen einfach nur runter. Wegen seiner ganz natürlichen Art und Weise die Welt zu erleben. Die verwerfliche Sichtweise ist also beim Gegenüber zu finden – und doch bürgen sich viele Introvertierte die Schuld auf. Ironischerweise kann sich so Schüchternheit entwickeln. Oder eben Selbsthass.

Denn natürlich versteht im nächsten Schritt dann auch nicht jeder, dass Schüchternheit etwas ist, was veränderbar ist, introvertiert sein aber nicht. Wenn also viele sagen „Ich hasse es introvertiert zu sein“, sind da unglaubliche viele Personen bei, die eigentlich meinen, sie wollen keine soziale Gehemmtheit mehr erleben.

Sie setzen aber natürlich an den falschen Punkten an. Anstatt sich Selbstvertrauen nach und nach in übersichtlichen Situationen zu erarbeiten – und sich auch Ruhe und Ausgleich zu gönnen – stürzen sie sich in die Veränderung. Sie jagen dem Bild  von sich selbst als super beliebt, super selbstbewusst und super sozial nach, weil so werden sie ja bestimmt ganz bald „besser“ sein. Es wird unglaublich viel Hoffnung in dieses fiktive Selbstbild gelegt, das nur ganz wenig mit der Realität zu tun hat.

Anstatt mit den eigenen Bedürfnissen zu arbeiten, wird versucht, sich selbst komplett umzudrehen. Dass das nicht funktioniert, ist von außen leicht zu sehen, aber für die Person selbst ist da einfach nur das verzweifelte Bedürfnis, endlich „richtig“ zu sein.

Da spielt auch hinein, dass das Internet uns ein falsches Bild vom „richtig sein“ vermittelt.

Social Media Einfluss

Ich betone immer wieder: Das Internet ist das, was wir daraus machen. Manche machen daraus eine Abwärtsspirale aus Selbstzweifeln und Selbsthass.

Ohne das Internet und Social Media hätte ich schwer herausgefunden, dass ich introvertiert bin und was das heißt. Ich hätte auch selbst anderen nicht auf die gleiche Art helfen können.

Aber manche verlieren sich eben auch in negativen Gedanken und falschen Informationen. Zumal online immer der Vergleich wartet. Wenn ein Algorithmus erkennt, dass du Videos oder Posts zum Thema selbstbewusster werden länger anschaust, wirst du auch mehr davon sehen. Plötzlich siehst du fast ausschließlich Menschen, die von Natur aus Überflieger sind – oder sich als solche präsentieren wollen.

Klar erweckt das den Anschein, als wäre ruhig und besonnen zu sein, eher die Ausnahme. Vielleicht sogar ein Hindernis auf dem Weg zum Erfolg.

Das liegt aber natürlich auch daran, dass sich schwer messen lässt, wie Ruhe und Einfachheit zum Erfolg führen können. Ich nehme mal YouTube als Beispiel: Unglaublich viele erfolgreiche YouTuber sind introvertiert. Sofern sie das aber nicht auch vor der Kamera deutlich zeigen oder darüber sprechen, nehmen viele Zuschauer erst einmal an, sie müssten ja extrovertiert sein.

Gleiches gilt für Politiker, Influencer, Unternehmer, Hollywood-Stars – die Standardannahme ist oft, wer in der Öffentlichkeit steht, ist garantiert nicht introvertiert. Logischerweise ist die Wahrnehmung vieler Menschen daher, dass es kaum erfolgreiche Introvertierte gibt. Ergo: Man muss schon extrovertiert sein, um erfolgreich zu sein.

Falsch. Da spielt wieder hinein, dass Schüchternheit und Introvertiertheit in einem Topf landen. Introvertierte brauchen mehr Ruhe, bevorzugen tiefgründige Beziehungen und Diskussionen, sind meist etwas vorsichtiger bei neuen Projekten und genießen es nicht, ständig im Mittelpunkt zu stehen.

Aber das heißt ja nicht, dass sie nicht mit Aufregung umgehen können, Smalltalk nicht lernen können, neue Projekte nicht starten würden oder im Mittelpunkt stehend keine gute Arbeit leisten würden.

Von außen ist der Persönlichkeitstyp oft nicht so leicht zu erkennen. Social Media verzerrt die Wahrnehmung noch zusätzlich. Und wer nicht erkennt, dass die Welt auch voller erfolgreicher Introvertierter ist, na der will logischerweise auf keinen Fall introvertiert sein.

Was passiert, wenn Introvertierte nicht mehr gegen ihre Natur ankämpfen?

Es ist einfach tragisch, dass wir Vorurteile gegenüber Introvertierten noch immer nicht überwunden haben. Denn es fühlt sich so unglaublich gut an, wenn wir verstehen, dass unsere natürliche Art die Welt zu erleben, kein Fehler ist.

Ich habe Wanderlust Introvert 2019 gestartet und seitdem haben mir hunderte Menschen geschrieben, dass sie sich endlich besser verstehen. Dass es sich toll anfühlt, nicht allein zu sein. Wie sich alles für sie verändert hat, seitdem sie sich akzeptieren.

In dem Moment, in dem jemand wirklich versteht, dass introvertiert sein weder gut noch schlecht ist, beginnt fast immer eine Reise zu mehr Selbstvertrauen. Zum einen liegt es daran, dass nicht mehr so viel Energie darauf verschwendet wird, anders sein zu wollen. Zum anderen ist das aber auch eine gewisse Trotzreaktion: Man ärgert sich, dass die Gesellschaft oder das soziale Umfeld einem Komplexe eingeredet haben.

Ab da an, gehen wir kritischer damit um, wenn Menschen Erwartungen an uns haben. Wir können lernen, Grenzen zu setzen und unsere Bedürfnisse zur Priorität zu machen.

Im Idealfall wird aus einem von Zweifeln geplagten Menschen, der sich selbst hasst, ein Mensch, der sich Zeit für sich nimmt, weniger Stress empfindet, seine sozialen Kontakte achtsamer wählt und einen Lebensweg beschreitet, auf dem er gerne unterwegs ist.

Dieser Effekt ist natürlich am größten, wenn sich jemand vorher ernsthaft nicht leiden konnte. Wenn jemand nur nicht so recht wusste, wer er ist, dann ist die Veränderung oft nicht so unglaublich lebensverändernd. Aber trotzdem ist es wichtig, dass eine gewisse Abwehrkraft gegen diejenigen besteht, die uns einreden wollen, extrovertiert wäre besser als introvertiert.

Was können wir tun?

Ich muss immer aufpassen, dass ich nicht aus Versehen den Eindruck erwecke, Introvertierte wären bessere Menschen als Extrovertierte. So ist es dann nämlich auch nicht. Es gibt hinterhältige, rücksichtslose, gemeine und ekelhafte Introvertierte.

Aber selbstverständlich müssen wir hier korrigieren. Denn wenn noch immer für viele der Eindruck entsteht, Introvertiertheit wäre ein Defizit, dann müssen wir das zurechtrücken.

Und eigentlich ist das kinderleicht. Was es umso tragischer macht, dass wir das noch immer besprechen müssen. Am Ende des Tages geht es darum, Diversität, also Vielfältigkeit, zu schätzen. Dann nämlich wird klar: Jeder kann mit dem arbeiten und leben, was ihm mitgegeben wurde.

Zwängen wir Introvertierte in extrovertierte Strukturen, wird das meist nichts. Zwängen wir Extrovertierte in introvertierte Strukturen auch nicht. Wie empathisch wir sind, ob wir Logik oder Bauchgefühl bevorzugen, wie wir mit Stress umgehen, was uns Freude bereitet, … – all das bestimmt, wie wir unseren Alltag gestalten, wo wir Prioritäten im Leben setzen und wie wir Zufriedenheit finden können.

Viele Introvertierte arbeiten gerne intensiv und ruhig an Projekten – das wird in Unternehmen gebraucht. Viele Introvertierte sind gerne Ratgeber oder offene Ohren – das wird von Freunden geschätzt. Viele Introvertierte machen aus ihrem Zuhause einen Rückzugsort – das kann ideal für extrovertierte Partner sein, die einen Ruhepol suchen.

Mit unseren Bedürfnissen zu arbeiten, macht alles leichter. Nicht von der Erwartungshaltung anderer aus das Leben zu gestalten, ist also wichtig. Wir müssen in uns hineinhören und schauen, wo unsere persönliche Zufriedenheit zu finden ist. Das hängt nicht nur an der Introvertiertheit, sondern auch an unzähligen weiteren Faktoren – aber die introvertierte Erfahrung ist nun mal ein wesentlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit.

Wer es geschafft hat, sich selbst besser zu verstehen, der schafft es hoffentlich auch, andere Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. Denn es kann sich wahnsinnig gut anfühlen, wenn uns jemand sagt, dass er unsere ruhigere Art schätzt. Oder unsere Freundschaft. Unsere Art, wie Welt zu sehen.

Diese Nachricht müssen wir auch in die Welt senden. Möglicherweise ist dafür ein Blog nötig oder ein YouTube-Kanal. Aber oft reicht es auch schon, mal auf Social Media zu kommentieren, dass man es schätzt, wenn jemand nicht so laut und aufdringlich ist.

Oder im echten Leben: Da können wir introvertierte Mitmenschen fragen, ob sie eher ein Einzeltreffen bevorzugen anstatt sich in der Gruppe zu treffen. Wir können auch über unsere Erfahrungen sprechen – denn dann hört vielleicht jemand, dass du introvertiert bist, obwohl du gar nicht schüchtern bist, und lernt so den Unterschied.

Wenn das Problem ist, dass es Menschen an Wissen fehlt, um sich selbst besser zu verstehen oder respektvoll mit introvertierten Menschen umzugehen, na dann müssen wir aufklären, Erfahrungen teilen und die Diskussion umgestalten. Das geschieht ja schon auf viele Arten. Aber noch ist der Prozess nicht abgeschlossen.

Introvertierter Selbsthass ist noch nicht ausgerottet. Bis das so weit ist, wird es wohl auch noch eine Weile dauern. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.

PS: Das ist natürlich nur ein kleiner Einblick in die vielen Gründe, die es schwer machen, introvertiert zu sein. Gerade im persönlichen Kontakt zu Freunden und Familie liegt noch viel mehr verborgen. 

2 Kommentare

  1. Ich bin inzwischen 80 Jahren !Gut beschrieben, ich möchte auch nicht mehr jedermanns Freund sein, ständig die Frage hast du WhatsApp, nein will ich nicht.
    Habe einen gutennJob gemacht ,war auch noch alleinerziehend.
    Ich hätte es auch gerne einfacher gehabt, aber ich lerne jetzt mich anzuerkennen,nicht rumprahlen und angeben.Ich sitze im Stadtbus ohne Handy..

  2. Liebe Leser,

    dieser Artikel von Wanderlust Introvert überzeugt wieder mal durch Authentizität in der Social-Media-Wüste!

    Es ist wichtiger, denn je in unserer gesellschaftlichen Zeitenwende einen authentischen Fingerabdruck zu hinterlassen.

    Das gesellschaftliche Wirken von Jennifer Häuser setzt einen solchen Meilenstein für uns alle!!!

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