Chaotische Menschen verstehen: Wie ticken sie?

Von Natur aus eher chaotisch zu sein, ist nicht unbedingt etwas, worum man bitten würde, wenn man sich seine Persönlichkeitsmerkmale aussuchen könnte. Aber das ändert ja nichts daran, dass einige von uns trotzdem von chaotischen Gedanken, Verhaltensweisen und Wesenszügen betroffen sind.

Nur wird der Begriff chaotisch ja nicht für einen speziellen Menschentyp genutzt. Jemand mit einer unordentlichen Wohnung wird genauso chaotisch genannt wie jemand, dessen Gedanken viel hin- und herspringen. Verpasst jemand Termine, dann liegt das an seiner chaotischen Art und organisiert jemand seinen Arbeitsplatz (real oder digital) ohne Konzept, dann erkennt man von außen auch nur Chaos.

Somit gilt wie immer: Worte haben Kraft und es kann sich lohnen, chaotische Menschen nicht als klar definierte Gruppe zu sehen. Denn die Ursachen für chaotisches Verhalten sind genauso vielfältig wie die Folgen.

Ursachen

Die folgenden vier Ursachen gehören zu den gängigsten Gründen dafür, dass jemand als chaotisch bezeichnet wird – oder sich als chaotisch wahrnimmt. Es sind aber weder die einzigen Ursachen, noch müssen sie klar voneinander getrennt werden. Eine Kombination von Ursachen ist durchaus möglich.

Ordnung und Struktur nie gelernt

Ein ziemlich einleuchtender Grund, warum jemand möglicherweise Probleme mit strukturellem Denken, Arbeiten und Leben hat, ist wohl, dass die Person es nicht anders gelernt hat. Ein Baby bekommt ja zur Geburt nicht sofort einen Excel-Kurs oder einen Terminkalender geschenkt.

Sich erreichbare Pläne zu kreieren, diese zu befolgen und gegebenenfalls Veränderungen vorzunehmen, fliegt nicht jedem zu. Also müssen Eltern oder Lehrer Anleitungen geben. Fehlt das – weil die Eltern selbst beispielsweise chaotisch sind – wird es auch nicht leicht sein, ordentlich zu sein.

Und je länger man chaotisch lebt, umso schwieriger kann es werden, etwas zu verändern – zumal nicht jeder glaubt, das tun zu müssen. Wer auch mit chaotischen Verhaltensweisen gut durch das Leben kommt, der wird nicht aus Spaß an der Freude plötzlich an To-Do-Listen hängen wollen.

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Unordentliches Gehirn (ohne Diagnose)

Gehirne sehen nicht alle gleich aus – insgeheim wissen wir das, aber bewusst ist es nicht jedem. Bei manchen Menschen ist einfach mehr los im Oberstübchen. Nein, das heißt nicht, dass sie automatisch klüger sind.

Aber wenn viele Gedanken kreisen, viel reflektiert wird oder Eindrücke nicht ordentlich gefiltert werden, dann kann das schon zu Chaos im Kopf und im Leben führen. Hochsensible und introvertierte Menschen wären hier zu nennen – oftmals können Umweltreize schlechter gefiltert werden, weshalb sie stärkere Reaktionen auslösen.

Wichtig: Das heißt natürlich nicht, dass alle Hochsensiblen und Introvertierten chaotisch wären. Aber wenn wir Ursachenforschung betreiben, dann gehört dieser Faktor wohl dazu.

Unordentliches Gehirn (mit Diagnose)

Viele chaotische Menschen sind neurodivergent. Zu den häufigsten Diagnosen bei Neurodivergenz gehören Autismus und AD(H)S. Wenn wir bei Hochsensiblen von ein bisschen anderer Gehirnstruktur sprechen, dann ist das bei neurodivergenten Menschen noch mal einen Gang höher geschaltet.

Gerade AD(H)S führt dazu, dass Routinen nicht automatisch gebildet werden. Sie müssen entweder von außen kommen oder mit Hilfsmitteln (medikamentös und/oder durch Verhaltenstherapie) erlernt und aufrechterhalten werden. Auch Zeitblindheit ist ein Problem – oftmals kommen Menschen mit ADHS zu spät und wissen nicht mal warum.

Grund dafür ist (unter anderem, das hier ist ja nur ein kleiner Einblick), dass Dopamin in den Gehirnen von Menschen mit ADHS anders verteilt und genutzt wird. Neue Reize haben fast immer Vorrang vor alten. Somit sind Ablenkungen vorprogrammiert.

Das ist dann pures Chaos, weil die Nachricht auf dem Smartphone vom Gehirn als neuer, wichtiger Reiz verstanden wird, während der Kochtopf auf dem Herd einfach aus den Gedanken verschwindet. Für Menschen, die nicht betroffen sind, klingt das völlig absurd und sie interpretieren das oft als Faulheit, Arroganz oder gar Dummheit. (Warum das keine gute Idee ist, sehen wir gleich beim Thema „Umgang“.)

PS: Wenn du jetzt denkst „Aber sind Menschen mit Autismus nicht eher strukturliebend?“, dann sage ich erstens: Nicht alle, Autismus ist ein Spektrum und Autisten bleiben Individuen mit Eigenheiten aller Art, und zweitens: Nicht immer passt die Struktur eines Menschen mit Autismus zur Struktur, die die Gesellschaft oder das soziale Umfeld vorgeben – somit wirkt die Struktur selbst dann eher chaotisch oder unordentlich.

Stress

Manch ein Mensch kennt ordentliches Leben und Denken, ist weder neurodivergent noch hochsensibel und schafft es trotzdem nicht, Ordnung ins Leben zu bringen. Dann kann auch einfach Stress vorliegen.

Dazu mal einfach dieser Gedanke: Die 40-Stunden-Woche wurde damals unter der Annahme eingeführt, dass eine Person Vollzeit arbeitet und der Partner sich um (fast) alles andere kümmert. Der Haushalt, die Bürokratie, die Kinderbetreuung, Mahlzeiten – all diese Dinge wurden nicht oder nur teilweise der Person zugeschrieben, die Vollzeit arbeitet.

Heutzutage sieht das anders aus. Wer arbeitet, der muss trotzdem Bürokratie erledigen, Termine wahrnehmen, den Haushalt schmeißen, sich körperlich ausreichend betätigen, informiert bleiben, gesund essen, Kinder großziehen, … ich fühle mich schon beim Tippen dieser Liste gestresst.

Und wer lange genug unter diesem Stress leidet, der wird irgendwann auch keine Ordnung aufrechterhalten können. Was einem einst wichtig war, fällt irgendwie hinten ab. Termine werden verpasst. Der Haushalt bleibt liegen. Burnout und Stress sind nicht grundlos so krasse Probleme in der modernen Gesellschaft.

Umgang mit chaotischen Menschen

Ich hoffe doch, dass die Vielfältigkeit der Ursachen für chaotisches Verhalten bei dir schon mal den Gedanken auslöst, dass du vielleicht keine voreiligen Schlüsse ziehen solltest.

Zwei wichtige Hinweise: 1. Die allergrößte Mehrheit an chaotischen Menschen wird nicht wie von Zauberhand „unchaotisch“ werden, wenn du sie unter Druck setzt, anschreist oder ihnen Schuld einredest, und 2. Wenn die chaotische Art eines Mitmenschen dir Probleme bereitet, darfst du es ansprechen und gegebenenfalls auch Veränderungen einfordern.

Diese zwei Punkte sind natürlich schwer miteinander vereinbar. Aber unordentliche Menschen herunterzumachen, ist eben genauso wenig zielführend, wie sich von ihnen schlecht behandeln zu lassen. Es gibt sehr viele Menschen, die chaotisch sind und anerkennen, dass sie anderen das Leben damit manchmal schwer machen.

Sie suchen sich also Strategien und Hilfe, um etwas weniger unordentlich oder abgedreht zu sein oder zu wirken. Gerade in engen Beziehungen oder auf Arbeit ist das auch nicht unwichtig, denn wer sehr chaotisch ist, vergisst schon mal Dinge oder macht leichter Flüchtigkeitsfehler.

Wenn andere dadurch Nachteile erfahren – wie Mehrarbeit oder verletzte Gefühle – ist das natürlich doof.

Hast du mit einem chaotischen Menschen zu tun und das Gefühl, dass du dich damit nicht wohlfühlst, dann kannst du das ansprechen. Sag dieser Person, dass dir das Arbeiten oder Leben erschwert wird, weil du zusätzlich aufpassen musst, dass der chaotische Mensch nichts vergisst – nur weil viele Menschen nicht absichtlich chaotisch sind, bleibt das Chaos ja trotzdem nicht ohne Folgen.

Solltest du allerdings nicht direkt von der chaotischen Art betroffen sein, dann musst du auch nichts einfordern. Hast du es mit einem erwachsenen Menschen zu tun, darf dieser schon selbst einschätzen, ob er sein Leben gut lebt oder nicht. Sofern also nicht um Hilfe beim Organisieren oder „Klarkommen“ gebeten wird, lass diese Personen einfach sie selbst sein.

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Vorteile

Chaotische Menschen sind oft kreativer und mit ihnen wird es selten langweilig – man kann Chaos also auch positiv sehen. Das ist natürlich ein zweischneidiges Schwert. Beziehungsweise sind es zwei zweischneidige Schwerter.

Chaotisches Verhalten kann das Leben interessant halten. Es wird oft in den Tag hinein gelebt und chaotische Menschen lernen sich aus den Miseren, die sie dadurch manchmal kreieren, auch einfach wieder rauszuarbeiten. Somit sind sie das Gegenstück zu denjenigen, die für alles Regeln und Abläufe haben – diese Menschen sind oft effektiver und zuverlässiger, werden aber vom sozialen Umfeld dafür auch mal mit dem Titel „langweilig“ versehen.

Kreativität ist vielen chaotischen Menschen wichtig. Aber ziellose Kreativität kann sich auch belastend anfühlen. Die Ideen und die Kunst nicht wirklich in eine Richtung zu lenken, fühlt sich manchmal wie vergebene Mühe an. Aber: Sehr viele Menschen würden das Chaos in ihrem Kopf niemals aufgeben wollen, weil ihre kreative Ader eng damit verbunden ist.

Gefahren

Manche Menschen müssen selbstständig einen passenden Lebensstil finden, andere brauchen externe Strukturen. Die größte Gefahr besteht darin, wenn jemand das Gefühl hat, dass die chaotische Art nur negativ und eine Belastung ist und das auch für immer so bleiben wird. Hilflosigkeit ist auf Dauer eine tiefe Grube voller Unglück.

Somit müssen chaotische Menschen selbst auf Spurensuche gehen oder sich professionelle Hilfe in Form eines Psychologen oder Psychotherapeuten suchen. In manchen Fällen kann das Chaos durch mehr Ruhe im Leben oder Medikamente komplett beendet werden. Sehr viel häufiger wird man es allerdings nur abschwächen können.

Das kann dann auch dazu führen, dass das Leben ein bisschen umgestellt werden muss – was nicht schlimm ist. Extrem chaotisch zu sein, ist nun mal nicht die Norm, also ist die Welt erst einmal nicht für chaotische Menschen gemacht.

Mit Hilfe von Apps können Routinen gefördert werden. Partner, Freunde und die Familie können mit eingebunden werden, um die negativen Folgen der chaotischen Art abzuschwächen. Ernährungsumstellungen, Sport oder Meditation sind keine Allheilmittel, aber oftmals kleine Stellschrauben, die im Alltag helfen.

Wer sich jeglicher Veränderung verweigert, wird leider auch immer wieder Opfer werden. Chaotische Menschen sind oft anfällig für Suchterkrankungen, das Messiesyndrom oder Arbeitslosigkeit. Eine erhöhte Anfälligkeit bedeutet aber nicht automatisch, dass das Leben schon vorherbestimmt wäre, keine Sorge.

chaos im kopf

Fazit: Chaos ist … chaotisch

Ob man nun selbst chaotisch ist oder mit einem chaotischen Menschen zu tun hat – die Situation ist kompliziert. Das muss man weder schönreden noch schlechtreden. Seelische Unordnung ist nicht das Ende der Welt, aber etwas, was man nicht ignorieren sollte – weder bei sich noch bei nahestehenden Personen. Aber Verständnis ist der erste Schritt zu mehr Kontrolle und somit auch zu Veränderungen oder Akzeptanz.

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