Wie Introvertierte Momente genießen

Als ich an einem Donnerstag im September in der Morgensonne saß und die Schwalben bei ihren morgendlichen Flugstunden beobachtete, kam mir der Gedanke, dass ich später auch in  einem Haus leben möchte, das mir einen solch ruhigen Morgen ermöglicht.

Dann stoppte ich mich, denn mein Kopf kreierte sofort wieder Ideen und Pläne, als ob dieser Morgen ein signifikanter Moment in meinem Leben sein müsste. In Wahrheit sollte ich die Sonne und die (relative) Ruhe nur genießen.

Doch da mein Gehirn nie besonders lange Pause macht – außer natürlich in extrem wichtigen Momenten wie Prüfungen oder wenn mir ein höchst attraktiver Mensch gegenübersteht – formte sich die folgende Frage: Genießen introvertierte und nicht-introvertierte Menschen unterschiedlich?

Natürlich war die Antwort sofort: Ja. Denn dieser Frage, obwohl ich sie mir selten in so einer Umgebung und mit so viel Zeit zum Nachdenken gestellt habe, bin ich schon tausendfach begegnet. Eigentlich jedes Mal, wenn etwas passiert oder auch nichts passiert, sieht man die verschiedensten Reaktionen.

Ich denke, dass man dabei nicht immer nur zwischen introvertiert und extravertiert unterscheiden kann. Immerhin reagieren wir auf Situationen auch nach anderen Faktoren wie frühere Erfahrungen, Angst oder aktueller Stimmungslage.

Allerdings kennen viele Introvertierte wahrscheinlich Situationen wie diese, die ich gleich beschreiben werde:

Gewitter und andere Naturphänomene

Ich liebe Gewitter. Nicht, weil ich gerne vom Blitz getroffen werden würde (also jetzt gerade nicht, manchmal schon) oder weil mir nicht klar wäre, dass Gewitter auch schwere Schäden anrichten können.

Nein, ich finde Gewitter toll, weil sie einem Menschen aufzeigen wie klein und machtlos er ist. Wir glauben, dass wir so viel kontrollieren, dass es faszinierend ist, wenn die Natur plötzlich die Muskeln spielen lässt und uns überfällt.

Ein Blitz, bei dem man sieht, wie er sich am Himmel abzeichnet? Wow. Ein Donnergrollen, das man tief in seinen Knochen spürt? Beängstigend und faszinierend zugleich. Und was machen manche Menschen? Fenster zu, Fernseher an, Gewitter egal.

Auch bei Stürmen, Starkregen oder extremen Schneefall gibt es genug Leute, die keinerlei Interesse zeigen. Das verwirrt mich dann. Ich gehe davon aus, dass für diese Menschen die Naturereignisse einfach keine größere Bedeutung haben. Als jemand, der viel darüber nachdenkt, was die Menschheit ausmacht und mit welch einer Arroganz wir anderen Menschen, den Tieren und der Natur im Allgemeinen begegnen, ist mir das suspekt.

gewitterliebe

Aber ich sehe das auch selbstreflektiert. Denn wenn ich jemanden darauf anspreche, warum Dr. House gerade wichtiger ist als ein Gewitter, dann würde ich wahrscheinlich hören: Ist doch nur ein Gewitter. Meine Antwort wäre: Ist doch nur Dr. House.

Aber in anderen Situationen wäre mir Dr. House auch wichtiger und ein extravertierter Mensch würde aus allen (Gewitter-)Wolken fallen. Hätte ich beispielsweise die Wahl zwischen einem Telefonat und der Auflösung des Rätsels bei House, würde ich wahrscheinlich einfach nicht ans Telefon gehen. Aber zu Filmen und Serien komme ich gleich noch.

Morgens und Abends

Wer Gewitter und Co. nicht gut findet, folgt meinem Gedankengang bisher wahrscheinlich nicht (keine Sorge, das geht vielen Menschen so, manchmal auch mir selbst). Aber das Bedürfnis nach  Ruhe und Frieden, das sollten die meisten kennen. Früher oder später will jeder Mensch einfach mal hören, wie Stille klingt.

Nur möchte ich das ständig. Wenn ich jeden Morgen nach dem Aufstehen erst einmal eine halbe Stunde nichtstuend Rumsitzen und den Geräuschen des Morgens lauschen kann, dann liebe ich das. Mir wird nicht langweilig und ich will auch nicht reden.

Gleiches gilt für einen schönen Sonnenuntergang. Gut, als Rostocker bin ich natürlich verwöhnt, weil wir die besten Sonnenuntergängen an der Ostsee und im Stadthafen haben. Also kann ich auch während des Sonnenuntergangs mal quatschen. Aber es stört mich eben auch nicht, einfach still zu sein.

Manchmal muss ich das sogar. Denn um wirklich genießen zu können, muss ich den Moment, wie auch immer er aussieht, in gewisser Weise reflektieren können. Viele Menschen – gelegentlich auch ich – machen das, indem sie darüber sprechen. Noch häufiger machen sie eine Million Fotos, von denen sie eines bei Instagram posten und die anderen löschen, wenn der Handyspeicher voll ist.

„Die Farben des Sonnenuntergang sind echt toll. Wenn die Vögel vor der Sonne fliegen, sieht das krass aus. Was für ein Glück ich habe, hier sitzen zu können.“

Mindestens solche simplen Gedanken braucht es, um von dem Moment auch etwas zu haben. Und diese Gedanken kommen mir nicht, wenn nebenbei Beer Pong gespielt wird oder laut Musik läuft. Auch das kann schön sein und dazu gehören. Aber mir tun diejenigen leid, die noch nie stillschweigend gewartet haben, bis die Sonne endgültig am Horizont verschwunden ist.

Songs und Filme

Okay, okay, wenn ich dieselbe Folge Brooklyn Nine Nine das siebte Mal sehe, dann kann ich auch gerne quatschen. Wenn ich mit Leuten im Auto sitze und das Radio aufdrehe, dann ist es unsere Bürgerpflicht, laut und schlecht mitzusingen.

Aber in emotionalen Momenten zu quatschen – das geht gar nicht. Alle in der Produktion involvierten Menschen haben viel Zeit und Schweiß investiert, damit die entscheidenden Momente in einem Film oder einer Serie einen emotionalen Effekt auslöst. Diesen möchte ich erleben. Sonst kann ich mir das Gucken nämlich auch sparen.

Ich genieße es, wenn etwas so gut gemacht ist, dass es mich berührt. Wenn Sam aus Atypical seinen Vater umarmt (minimaler Spoiler) dann weiß ich, weil ich die Serie aufmerksam gucke, dass das ein wichtiger Moment ist. Als Tyrion (damals, als Game of Thrones noch ein Meisterwerk war) seine berühmte Rede hält und die Bewohner von Kings Landing bedroht und verhöhnt, kriege ich Gänsehaut. Als (Spoiler) am Ende von Avengers: Endgame stirbt, fühle ich das.

Ist die Folge oder der Film vorbei, dann brauche ich immer noch ein paar Minuten, um das Gesehene zu verarbeiten. Mein bester Kumpel redet sofort drauf los, was immer etwas schwierig ist. Ich weiß noch nicht genau, was meine Meinung ist, schalt einen Gang runter!

Grundsätzlich erleben wir aber beide etwas, wenn wir ein Medienerzeugnis konsumieren – wie technisch das klingt, oder?

serien emotional werden

Aber wirklich, wir nehmen Filme und Serien ernst. Als Introvertierter nimmt man nun mal fast alles ernst. Und das ist gut so. Ich freue mich auf Filme, ich leide, wenn Seriencharaktere leiden und ich schimpfe und kämpfe, wenn das Niveau plötzlich sinkt, weil mein Herz so daran hängt.

Mit Musik ist es etwas anders. Meist konsumiere ich die auch nebenbei. Aber es gibt trotzdem ein paar Songs, die einfach mehr bedeuten als andere. Songs, die ich eben genieße. Don’t stop believing. Bohemian Rapsody. Seid bereit (Scar). Das sind nur einige Beispiele, aber diese Songs feiere ich wieder und wieder. Umso verrückter ist es, wenn Menschen Musik einfach nur hören. Keine emotionale Reaktion, keine Verbindung zu Erinnerungen? Wie macht das Leben denn dann überhaupt Spaß?

Was uns unterscheidet

Introvertierte Menschen genießen Dinge, weil sie ihnen Aufmerksamkeit schenken. Ist zumindest meine These. Wer in sich gekehrt lebt, auf Regeneration und Ruhe setzt, der erlebt Dinge intensiver. Deshalb ist es uns zuwider, wenn Menschen so mir nichts dir nichts etwas abtun, was für uns selbst aber von Bedeutung ist.

Natürlich machen wir Introvertierten das auch. Wenn mir extravertierte Freunde erzählen, dass das tollste an Festivals das Zusammensein und die vielen Leute sind, dann zeige ich ihnen den Vogel. Und wenn ich mich mit jemandem auf einen Kaffee treffe, der mir erzählt, dass er vorher schon mit Freunden unterwegs war und nach unserem Treffen noch weiterzieht, dann frage ich mich schon, ob da jemand Angst vor dem Alleinesein hat.

Der Unterschied ist, dass Extraversion der Standard in unserer Gesellschaft ist. Sage ich also jemandem, dass bei Festivals nur die Musik zählt und alles drum herum einfach nur anstrengend ist, dann bin ich der Außenseiter mit der komischen Meinung. Sage ich jemanden, dass man nicht ständig sozial sein muss, guess what, dann ist meine Meinung auch eher die, die kritisiert wird.

Deshalb existiert unter anderem dieser Blog. Wanderlust Introvert ist auch dazu da, um zu zeigen, dass wir eben doch nicht so alleine sind. Extravertierte sind nur lauter und prägen die Gesellschaft mehr. Aber unsere Art zu genießen und zu erleben ist deswegen nicht weniger wert. Im Gegenteil, ich denke, dass sie zu interessanteren Erkenntnissen führt.

 Last but not least: Ein Gespräch führen

Nichts ist schlimmer, als sich einem Gespräch zu widmen, bei dem der andere nicht mitmacht. Und nein, ich meine nicht Smalltalk unter Freunden. Da passiert es mir auch, dass meine Gedanken plötzlich woanders sind.

Aber echte Gespräche, die, die wir am liebsten führen, die sollten volle Aufmerksamkeit verdienen. Da unsere Aufmerksamkeitsspannen allerdings mittlerweile fliegenähnlich sind, wird das immer schwieriger.

Obwohl ich nicht besonders sozial bin, genieße ich Gespräche. Wie oben erwähnt, wenn es um gute Filme oder Musik geht. Oder eben warum wir die Natur nicht unterschätzen sollten. Es gibt alle möglichen Themen, über die ich stundenlang sprechen kann und möchte.

Diese Gespräche genieße ich. Aber wenn mein Gegenüber dann am Smartphone spielt oder schlimmer noch – sich später nicht an das Gespräch erinnert, weil er nur mit einem halben Ohr dabei war – dann geht es mir schlecht. Denn wenn man etwas genießt, was eine andere Person mit einschließt, möchte man logischerweise, dass die andere Person es auch genießt.

Ein langer komplizierter Satz, der eigentlich nur sagt: Wenn ich Aufmerksamkeit gebe und keine zurückbekomme, geht es mir schlecht.

abgelenkt durch social media

Wir Introvertierten genießen die wichtigen Dinge. Reden wir uns zumindest ein, denn natürlich ist „wichtig“ eine sehr subjektive Kategorie. Wichtig sind für uns die Sachen, denen wir unsere begrenzte Energie widmen.

Vielleicht ist es für nicht-Introvertierte so einfacher zu verstehen: Stellt euch vor, ich habe 5 Stunden zur Verfügung. Wenn ich mich entscheide, alle 5 Stunden mit dir zu verbringen, dann fühlst du dich geschätzt, oder? Treffe ich lieber 5 verschiedene Menschen für jeweils 1 Stunde, dann muss ich meine Aufmerksamkeit teilen, bin schließlich erschöpft und kann mich wahrscheinlich an 3 der 5 Treffen schon beim Einschlafen nicht mehr erinnern. Und du denkst dir, du bist nur 1 von 5 und nichts Besonderes.

Introvertierte Eigenheiten respektieren

Also, liebe Introvertierte, seid ruhig still oder verlasst sogar eine Gruppe, damit ihr etwas wirklich genießen könnt. Wenn eure extravertierten Freunde wirkliche Freunde sind, könnt ihr es ihnen einfach erklären.

Wir genießen nicht im Vorbeigehen. Am Smartphone hängen, während ein YouTube Video läuft und das Worddokument vor sich hinblinkt, bedeutet, dass man nichts davon genießt oder besonders gut macht. Gefällt uns nicht. Ist okay. Genuss ist eine individuelle Sache bezüglich allem außer Brooklyn Nine Nine – wer die Backstreet Boys Szene sieht und sie nicht genießt, kann bitte gehen.

2 Kommentare

  1. Ich war mal im Winter nachts im Wald spazieren. Frischer Pulverschnee bedeckte den Boden, meine Schritte knarzten im Schnee, ich blickte nach oben und sah unseren Mond und Sterne. Das war eines meiner schönsten Erlebnisse und ich war dabei allein mit mir.

    • Hallo Stefan, das hast du toll ge-/beschrieben. Wir sind so oft auf der Suche nach „künstlichen“ Zielen und Momenten, dass wir vergessen können, dass die Welt an sich schon unglaublich ist. Ich höre gerne von Menschen, die – so wie ich – auch einfach mal gen Himmel gucken und zufrieden sind.

      Liebe Grüße

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