Dieser Blog hilft Menschen. Trotzdem hinterfrage ich ständig, was ich hier schreibe und vor allem: Wie ich es schreibe. Es wird praktisch alles relativiert. Und das hat gute Gründe.
Denn obwohl ich mehr über Introversion weiß als der Durchschnittsmensch, heißt das noch nicht, dass ich alles besser weiß. Ich kann nur Angebote machen und Informationen verbreiten – da ich aber nie die genauen Umstände des Lesers kenne, möchte ich nicht so tun, als wüsste ich, was das Beste für andere Menschen ist.
Es gibt keine Allgemeingültigkeit
Bestimmte Dinge treffen auf eine große, große Mehrheit der Introvertierten zu. Zum Beispiel, dass wir lieber Einzelgespräche führen als in der Gruppe zu diskutieren. Oder dass wir es genießen, wenn wir mit unserem Gedanken alleine sein können.
Aber es gibt auch für alles Ausnahmen. So haben manche introvertierte Menschen entsprechende Kompetenzen, um in Gruppendiskussionen alle an die Wand zu quatschen, während sie Einzelgespräche auch mal langweilen. Und es gibt natürlich viele Introvertierte, die unter psychischen Problemen leiden, die dafür sorgen, dass die eigenen Gedanken eher belastend wirken, wenn sie nie unterbrochen werden.
Sowas gilt nicht nur für Introversion. Alles, was unsere Psyche betrifft, ist meiner Meinung nach frei von Allgemeingültigkeit. Die „Lösung“ für Depression ist bei dem einen ein Lebenswandel, bei dem anderen Medikation und beim nächsten Verhaltenstherapie.
Trotzdem laufen überall Menschen rum, die ohne schlechtes Gewissen Dinge sagen wie:
- Du musst nur mehr Wasser trinken.
- Ich kenne jemanden, der war depressiv, aber Sport hat das geheilt, also mach einfach Sport.
- Sei doch einfach besser drauf.
- Medikamente bringen nichts.
- Therapie ist nichts für dich.
- Hab dich mal nicht so.
- Die Medien sind schuld.
In einem vernünftigen Gespräch über die Ursachen von Depression können alle diese Punkte behandelt werden. Ob es gesellschaftliche Entwicklungen gibt, die psychische Krankheiten bedingen, welche körperlichen Faktoren eine Rolle spielen, ob Therapie jedem hilft – alles zu diskutieren. Aber absolute Aussagen haben hier nichts zu suchen.
Warum man lieber die Klappe halten sollte
Ich habe mich schon etliche Male auf diesem Blog mit sogenannten Coaches auseinandergesetzt. Ich verstehe, dass sie einigen Menschen helfen. Ich verstehe aber auch, dass sie sich als Experten für Dinge präsentieren, die sie nicht verstehen.
Denn wenn zum Beispiel ein Coach für Introvertierte versucht, jemanden selbstbewusster zu machen, der unter einer ernsthaften Störung leidet, dann schrillen bei mir die Alarmglocken. Immer dann, wenn es nicht mehr um kleine förderliche Veränderungen geht, sondern in der mentalen Gesundheit herumgefuscht wird, dann braucht es eine jahrelange und professionelle Ausbildung.
Dass die Coaching-Industrie so wenig reguliert ist, ist tragisch. Der Grund: Es kann zwar auch schädlich sein, wenn jemand privat Aussagen über etwas trifft, was er kaum versteht. Introvertierte kennen das: Eltern sagen, man sollte nicht so ein Eigenbrötler sein. Freunde wenden sich ab, wenn man nicht ständig verfügbar ist. Ein Kollege berichtet, dass er früher mal introvertiert war, aber jetzt voll selbstbewusst ist (Hinweis für alle Neulinge: Er hat wahrscheinlich seine Schüchternheit überwunden.)
Es tut weh, wenn das direkte Umfeld einen nicht versteht. Doch sobald man versteht, dass diesen Personen einfach Wissen und gewisse Erfahrungen fehlen, um die Situation zu verstehen, kann man ein wenig Distanz schaffen. Coaches und vermeintliche Experten sind allerdings in einer höheren Machtposition.
Da A und O des Coaching-Marketings ist es, sich als verständnisvoll und absoluter Experte zu präsentieren. Ein Arzt überweist jemanden, für den er nicht geeignet ist. Ein Coach? Wendet im Normalfall die gleichen Techniken bei all seinen Kunden an (vielleicht ein wenig variiert). Und dabei wird ernsthafter Schaden angerichtet.
Achtung vor Universallösungen
Ein winziger Unterschied in der Gehirnchemie kann bestimmen, ob eine Therapie sinnvoll ist oder nicht. Gleiches gilt für Erfahrungen: Ein prägendes Ereignis in der Kindheit kann dafür sorgen, dass ein Tipp, der für neun Personen ideal ist, bei der der zehnten Person fehlschlägt.
Deshalb ist es extrem wichtig, dass wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten, anstatt uns als allwissend zu präsentieren. Das gilt für Privatpersonen, für Blogger und vor allem für all diejenigen, die angeben, durch ihre Kurse und Coachings Menschen zu helfen.
Denn es ist ein richtig übles und dreckiges Gefühl, wenn eine Sache angeblich allen Menschen helfen kann, bei einem selbst aber nicht funktioniert. Die Schäden, die dabei entstehen, schreiben sich Coaches und Experten aber plötzlich nicht mehr ins Profil – Verantwortung wird dann schnell abgegeben.
Ein Beispiel: Produktivität ist ja gerade unglaublich beliebt. Wie kann man seinen Alltag optimieren und einen perfekten Lebensplan entwerfen? Laut einigen Coaches sind es vor allem die langfristigen Ziele. Eine Mindmap, ein Vision-Board, ein Traum vom Leben in zehn Jahren – das soll jeden motivieren, täglich mehr zu leisten. Menschen mit ADHS suchen Hilfe für mehr Produktivität, machen den Kurs und scheitern kläglich. Denn es ist das genaue Gegenteil von dem, was sie brauchen.
(Hinweis: Die Wissenschaft sagt hier ganz klar, dass kurzfristige Ziele viel besser funktionieren und Langfristigkeit sogar im Weg steht, wenn man eine Aufmerksamkeitsstörung hat).
Wenn ich also schreibe: Eine Möglichkeit, produktiver im Alltag zu werden, ist, sich langfristige Ziele zu setzen. Unterscheidet sich das von: Der beste Weg, um seine Ziele zu erreichen, ist, langfristige Ziele zu haben. Für jemanden, der nicht direkt von so einem „Tipp“ betroffen ist, mag die Unterscheidung winzig sein. Doch wer sich in einer Situation befindet, in der er Hilfe sucht, für den macht es einen Unterschied, ob die Vorschläge eine mögliche Option sind oder die (angeblich) einzige Option.
Und ein weiterer Unterschied ist, ob ich ein jemand im Internet bin, der seine Meinung abgibt, oder ein jemand, der Qualifikationen anführt und für sich geltend macht, zu wissen, was richtig ist.
Die Alternative zur Allgemeingültigkeit
Wer meckert, sollte auch Lösungen anbieten und reflektiert sein. Letzteres zuerst: Auch mir passiert es, dass ich Dinge so formuliere, dass sie absolut klingen. Sowohl hier bei Wanderlust Introvert als auch im „echten“ Leben. Das passiert einfach. Aber ich persönlich möchte dazulernen und in Zukunft versuchen, weniger und weniger Dinge für alle zu behaupten, die eben nicht für alle gelten.
Die Alternative ist, keine Lösungen zu formulieren, sondern Wege aufzuzeigen. Damit ist gemeint, dass mehr Informationen und mehr Techniken zur Problembewältigung wichtiger sind, als vermeintlich einfache Lösungen (Stichwort: Hilfe zur Selbsthilfe). Wer zum Beispiel ein Grundverständnis von Kalorien und Nährwerten hat, der ist deutlich besser auf eine gesunde Ernährung vorbereitet als jemand, der einfach einen Ernährungsplan vorgesetzt bekommt – denn irgendwann ist der Plan zu langweilig oder beendet und dann steht man wieder ohne sinnvolle Handlungsoptionen dar.
Introvertierte, die selbstbewusster werden wollen, müssen erst einmal verstehen, was Introversion ist. Sonst denken sie, sie würden weniger introvertiert werden, während sie eigentlich an ihrem Selbstbewusstsein arbeiten. Die Unterscheidung ist wichtig, weil Introvertierte sonst möglicherweise versuchen, ihre natürlichen Bedürfnisse zu unterdrücken und langfristig Folgen davontragen.
Menschen, die Ratschläge geben, sollten diese so individuell wie möglich gestalten. Im Einzelgespräch klappt das noch ganz gut, immerhin kennen wir unser Gegenüber meist. Aber online? Da müssen wir mal einen Gang zurückschalten und lernen, dass Worte Kraft haben. Ob man eine Sache absolut formuliert oder relativ, macht einen Unterschied. Ob man erwähnt, dass eine Idee nicht zu jedem Menschen passt oder diesen Hinweis weglässt, macht einen Unterschied. Ob man sich als allwissend präsentiert oder als Hilfestellung, macht einen Unterschied.
Warum ich über Allgemeingültigkeit schreibe
Ich lerne jeden Tag noch Dinge über mich. Und falle auch immer wieder auf mich und andere rein, wenn ich denke: Hey, das klappt für so viele Menschen, das muss auch bei mir klappen! Und ich lerne jeden Tag noch Dinge über andere. Und erwische mich immer wieder dabei, wie ich annehme, dass ich ihnen mit meinen Erfahrungen automatisch helfen kann. Dahinter steckt wie bei so vielen Menschen keine böse Absicht: Wir denken, was uns hilft, muss doch auch anderen Menschen helfen.
Aber wie gesagt: Worte haben Macht. Und da wir bei Texten, Videos und anderen Medien nie genau wissen, wen wir erreichen, haben wir eine gewisse Verantwortung. Das streiten viele Menschen auch ab. Ich war schon in einige Diskussionen mit Coaches verwickelt, die der Meinung sind, dass alles Eigenverantwortung sei – also man müsse ja nicht machen, was sie sagen. Dumm nur, dass dieselben Coaches in jedem Marketingversuch und auch in ihren Kursen permanent propagieren: Ja, macht einfach, was ich sage!
Nichts an der menschlichen Psyche ist leicht. Allgemeingültigkeit ist ein Wunschtraum. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen, die eine gewisse Reichweite haben, sich dem bewusster werden. Sonst feiern wir uns für diejenigen, die unseren Rat befolgen und erfolgreich sind, und ignorieren gleichzeitig, dass dieselben Ratschläge anderen geschadet haben. Klingt heuchlerisch.
Weiterführende Texte: Coachings für Introvertierte / Toxic Positivity: Was ist das?
Hallo Jennifer,
dieser wohldurchdachte Beitrag ist Dir wieder mal grandios gelungen 🙂
Fact ist: Unter der Spitze des Möchtegern-Coaching-Eisbergs stinkt es fürchterlich – nach außen hui, nach innen pfui!
Liebe Grüße Tina & Markus
Hallo Jennifer, danke für diesen wunderbaren Beitrag. Ich empfehle allen Menschen, die mit Menschen arbeiten, egal, ob als Mediziner*innen, Coach*in oder als Psychotherapeut*innen, sich deinen Beitrag zu Herzen zu nehmen, denn oft entsteht dabei mehr Schaden als Nutzen. Liebe Grüße, Annette – Systemischer Coach und Dipl.-Soz.arb.
Danke für den Beitrag!
N zu viel bei „…, haben wir eine gewissen Verantwortung“
Danke auch, ist korrigiert 🙂
Liebe Grüße