Introvertierte Frauen und Männer: Wer es schwerer hat

Wir streiten über kaum eine Sache häufiger als die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Für introvertierte Männer und Frauen gibt es da auch keine Ausnahmen.

Machen wir mal etwas, was aus dramaturgischer Sicht alles andere als clever ist: Nehmen wir das Fazit dieses Textes vorweg. Dieser Beitrag wird keine Gräben ziehen, nicht behaupten, dass Geschlecht der wichtigste Faktor für den Umgang mit Introversion ist. Das Fazit ist: Es kommt immer auf die Umstände und die Individuen an – es gibt keine klare Antwort auf die Frage, wer es schwerer hat.

Somit ist das Ziel dieses Artikels, die Schwierigkeiten von Männern und Frauen aufzuzeigen und wo sie sich unterscheiden beziehungsweise gleichen. Eine Diskussion sozusagen, die aus Berichten und Erfahrungen zusammengestellt wurde, die on- und offline stattfindet.

Um ein wenig Ordnung in die Sache zu bringen, wird die Situation anhand von fünf Kategorien analysiert: Schule, Beruf, Freundschaften, Liebe und Medien.

Introvertierte Männer und Frauen in der Schule

Introvertierte Kinder werden missverstanden. Die Anzahl derjenigen, die im Zeugnis als Beurteilung stehen hatten „Muss sich mehr beteiligen“, ist statistisch zwar bisher nicht erfasst, dürfte aber erschreckend hoch sein.

Mitmachen und etwas darstellen, gehört schon sehr früh in unserer Gesellschaft zu den Dingen, die über Leistung und Sorgfalt gestellt werden. Von Jungs wird dabei noch eher erwartet, dass sie aus sich herausgehen als von Mädchen. Die ruhige Art von Mädchen wird dann der schnelleren Entwicklung oder dem krassen Gegensatz zum vermeintlich jungenhaften Raufbold zugeschrieben.

Wie damit umgegangen wird, hängt stark von der Schule und den betreffenden Lehrern ab. Introvertierte Jungs und Mädchen können in lauten und unübersichtlichen Klassenräumen mehr oder minder vergessen werden – und sie erhalten dadurch zu wenig Förderung.

Jungs müssen sich dabei mit einer Sache auseinandersetzen, die bei Mädchen seltener vorkommt: Dem Vorurteil, dass mit ruhigen Kindern/Menschen etwas nicht stimmt. Sowohl Mitschüler als auch Lehrer schieben einen Jungen, der sich zurückzieht, schnell in eine Kategorie der Abgedrehtheit oder sogar Gefährlichkeit.

Sind ruhige Menschen wirklich gefährlich?

Das kann Mädchen natürlich auch passieren, leider, doch ihnen wird häufig einfach das Image der grauen Maus oder der Schüchternheit auferlegt und damit hat sich das „erledigt“. Sie werden übersehen, während auf introvertierte Jungs häufig sogar zusätzliche Aufmerksamkeit zukommt, weil man sie „im Auge behalten muss“. Beide Szenarien sind verletzend und machen das Leben von Introvertierten nicht gerade leichter.

introvertierte männer haben es schwer

Introvertiert im Beruf: Männer und Frauen

In der Arbeitswelt zeigen sich Unterschiede zwischen introvertierten Männern und Frauen sehr stark. Immerhin gelten ruhige und bedachte Männer als hervorragende Führungspersönlichkeiten, während ruhige und bedachte Frauen gerne mal übergangen werden.

Auch hier gilt: Das passiert selbstverständlich auch einigen Männern. Was die Geschlechter eint, ist meist die Erfahrung, dass Qualität allein selten reicht, um beruflich erfolgreich zu sein.

So wie in der Schulzeit Mädchen eingeräumt wird, etwas ruhiger zu sein, wird in der Arbeitswelt den Männern ein Vertrauensvorsprung gegeben. Letztlich gilt in hochkompetitiven Berufen jedoch für alle dasselbe: Selbstdarsteller haben Vorteile. Das nervt jeden Introvertierten, der einfach gute Arbeit leisten möchte.

introvertierte frauen haben es schwer

Introvertierte Freundschaften

Von all den Kategorien erwarte ich bei Freundschaften die wenigsten Unterschiede zwischen introvertierten Männern und Frauen. Das liegt ganz einfach daran, dass wir uns unsere Freunde (meist) aussuchen können und somit Nach- und Vorteile von Introversion selten etwas mit dem Geschlecht zu tun haben.

Wer da anderer Meinung ist, darf mich gerne in den Kommentaren darauf hinweisen! 

Introvertierte Männer und Frauen in der Liebe

Falls sich eine Diskussion in den Kommentaren entwickeln sollte, dann wohl am ehesten bei der Frage danach, wer es beim Dating schwerer hat: Männer oder Frauen?

(PS: Das ist ein weitestgehend heteronormativer Blick auf das Thema, sonst wäre dieser Beitrag etwas zu komplex geworden.)

Männer kommen eher damit durch, weniger Gefühle zu zeigen, da das ohnehin lange der erwartete Standard war: Männer sagen nicht ständig, was sie fühlen, sie müssen nicht über alles reden. Das kommt einem introvertierten Mann, der gerne mit wenig Worten viel sagt, natürlich zu Gute.

Gleichzeitig sind wir insgeheim alle noch ziemliche Tiere und somit ist es beim Gebalze um einen potentiellen Partner Gang und Gäbe, sich aufzuplustern, bunte Farben zu tragen und erst mal die Klappe aufzureißen und aufzufallen. Darauf haben introvertierte Männer so gar keine Lust.

Frauen aber auch nicht. Frauen stehen in der freien Datingwildbahn in Konkurrenz zu unzähligen Artgenossen. Auffallen ist da kein unwichtiger Faktor, ganz im Gegenteil.

Für Männer und Frauen gilt (und dazu gibt es in der nächsten Kategorie ein paar Worte): Es gibt auch bestimmte Rollenklischees, die Introvertierten in die Karten spielen. Da ist zum einen der mysteriöse Mann, der nicht viel von sich preisgibt und dadurch Begehrlichkeiten weckt. Auf der anderen Seite stehen die zurückhaltenden Frauen, die einen Beschützerinstinkt auslösen.

Das kann man mögen oder nicht. Das hier wird sicherlich keine Analyse von guten und schlechten Dating-Techniken. Ich habe schon introvertierte Männer erlebt, die sich tierisch darüber aufregen, dass sie von Frauen nicht wahrgenommen werden, nur weil sie keinen großen Wirbel um sich machen. Frauen beschweren sich im Gegenzug, dass Männer ja so oberflächlich seien und nur auf einen bestimmten Frauentyp stehen würden.

Wer hat es also schwerer in der Liebe? Ich denke, das verschiebt sich mittlerweile etwas, doch grundsätzlich – und das ist meine ganz persönliche Meinung – würde ich behaupten, dass Männer doch noch einen kleinen Nachteil haben, da von ihnen traditionell erwartet wird, der aktivere Part zu sein.

Damit möchte ich jedoch auf keinen Fall den Frauen absprechen, dass es unglaublich nervig ist, wenn Introversion mit Schüchternheit gleichgesetzt wird und sie somit nicht ernstgenommen werden oder sich rechtfertigen müssen, wenn sie gar nicht so unschuldig sind, wie ein Gegenüber es erwartet hat.

Und seien wir ehrlich: In der Kennenlern- und Balzphase mag es nachteilig sein, dass wir Introvertierten nicht ständig auffallen wollen, dafür aber immer gleich eine qualitativ hochwertige Verbindung suchen, doch wenn die Beziehung erst einmal steht, haben wir den Extrovertierten auch einiges voraus.

introvertierte liebe

In den Medien: Wie sehen typische Introvertierte aus?

Es wurde schon angedeutet, hier noch mal in aller Ausführlichkeit: Introvertierte Männer sind in Film, Literatur und Fernsehen mysteriös und begehrenswert und introvertierte Frauen sind faszinierend und es gilt, sie zu erobern.

Die Kehrseite zu diesen Klischees sind Männer, die still sind und dann durchdrehen und Frauen, die nur ein Makeover brauchen, um ihre ruhige Seite endlich abzulegen.

Im Mainstream kommen Introvertierte einfach nicht gut weg. Unterhaltung arbeitet nun mal mit Archetypen und Tropes und es ist schwieriger, jemanden darzustellen, der viele Gedanken zurückhält, als jemanden, der jeden Gedanken ausspricht.

TV, Film und Literatur liefern Introvertierte meist in einer dieser drei Ausführungen: Still und gefährlich, still und nerdig, still und zu retten. Still und gefährlich kommt häufiger bei Männern vor, still und zu retten bei Frauen. Die Nerds müssen meist „geheilt“ werden, weil sie doch so viel mehr Potential haben, als Bücher zu lesen oder Computerspiele zu spielen.

Keine der Varianten ist besonders schön für echte Menschen mit vielen Facetten, die sich eigentlich ganz gerne als etwas mehr als ein Klischee sehen wollen. Außerdem befeuern sie die Idee, mit uns würde etwas nicht stimmen.

introvertierte in den medien

Introvertierte Persönlichkeiten, nicht introvertierte Geschlechter

Ich finde es albern, künstliche Gräben zwischen Männern und Frauen zu ziehen. Denn zu häufig erlauben wir uns, uns hinter diesen Kategorien und Erwartungen zu verstecken. Somit kann ich nicht unterstützen, wenn jemand sagt oder schreibt, dass er/sie es als Introvertierte/r so viel schwerer hat, weil er/sie eben ein er/sie ist.

Jeder Mensch ist anders, jede Situation, die bewertet wird, ist verschieden:

Ein introvertierter Mann ist selbstverständlich genervt, wenn die süße Kollegin von mehreren Männern umgarnt wird und ihn kaum bemerkt, obwohl er ihr ständig bei Fragen zur Seite steht – für ihn sieht es so aus, als müsste sie gar nichts machen und dürfte auch ungestört introvertiert sein, während es für ihn ein Hindernis ist.

Eine introvertierte Frau hat das Recht, sich darüber aufzuregen, dass sie als die Ruhige und die Nette gilt, nur weil sie die übriggebliebene Arbeit aller anderen erledigt, während sie den Laden längst übernehmen sollte und an der Spitze ein introvertierter Mann sitzt, der als stiller Leader und ach so inspirierend gilt, obwohl er keinen Handschlag mehr macht als sie selbst.

Doch diese individuellen Erfahrungen lassen keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen darüber zu, ob es jetzt sehr viel leichter oder schwerer ist, ein introvertierter Mann oder eine introvertierte Frau zu sein. Ich könnte nun anführen, dass dieses Fazit den Beitrag weitestgehend überflüssig macht, doch leider kommen nicht alle zu diesem Schluss und versuchen stattdessen, sich selbst und ihr gesamtes Geschlecht in eine Opferposition zu bringen – bitte lasst das, das führt zu nichts.

Lasst uns lieber gemeinsam darüber aufklären, wie Introvertierte sind oder sein können und wie wir die Welt sehen und erleben. Trotzdem dürft ihr in den Kommentaren selbstverständlich eure eigenen Erfahrungen schildern und schauen, ob es anderen so geht wie euch oder ob es gegenteilige Erlebnisse gibt.

Das wird kein „Wir gegen die Anderen“, denn sowas können wir Intros überhaupt nicht gebrauchen. Was wir brauchen, ist ein Ort, an dem man einfach mal darüber sprechen kann, wie es sich anfühlt, ein introvertierter Mensch in der modernen Gesellschaft zu sein. Schön, dass du hier bist.

2 Kommentare

  1. Sehr guter Beitrag, vielen Dank. Wenn introvertierte Menschen sich am Dating-Verhalten von Extrovertierten Menschen messen, dann können sie nur den kürzeren ziehen. Es gibt aber ein paar Stärken, die einem Intro grosse Vorteile verschaffen. Ich bin der Meinung, wir Intros geraten weniger an die Falschen, weil wir ein gutes Gefühl haben, welche Menschen zu uns passen und wir können sehr gut zuhören. Das Problem ist eigentlich nur, dass viele Intros sich ihrer Stärken gar nicht so richtig bewusst sind, viele gewinnen erst im Erwachsenenalter die Selbstakzeptanz, die so wichtig ist, um authentisch und sympathisch rüberzukommen.

    • Da stimme ich dir zu, eine „gefestigter“ Introvertierter sieht seine introvertierten Verhaltensweisen bzw. Eigenarten ja einfach als Teil der Persönlichkeit und versucht daher gar nicht, sie zu verstecken, sondern ist eher stolz auf sie und zeigt sie auch. Schade, dass das bei vielen Menschen erst so spät passiert.

      Liebe Grüße

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