Warum werden ruhige Menschen abgelehnt?

Viele von uns lernen in ihrer Kindheit, nicht zu schreien, zu lügen oder Unruhe zu stiften. Doch im Erwachsenenalter sind es plötzlich die Ruhigen und Zurückhaltenden, die auf Ablehnung stoßen. Die Gründe dafür sind zahlreich.

Zum Glück erfahren nicht alle stillen Menschen, wie es ist, für ihre leise Art verurteilt zu werden. Doch wer sich unter Introvertierten oder Hochsensiblen umhört, der erfährt auch immer wieder von Geschichten, in denen jemand seinen Job aufgeben musste, Freunde verlor oder gar beleidigt wurde.

Denn die Zurückhaltenden sind schlechter einzuschätzen, widersprechen dem gängigen Gesellschaftsbild oder gelten als arrogant. Da ist der Weg von „Du sagst aber nicht viel“ zu „Mit dir stimmt etwas nicht, nie sagst du was, du bist total arrogant“ leider nicht weit.

Zum Thema Arroganz unter Introvertierten gibt es einen separaten Beitrag: Sind Introvertierte arrogant und unglücklich? 

Gründe für die Ablehnung ruhiger Menschen

An dieser Stelle sollen nun sieben der typischen Gründe aufgezeigt werden, die zur Ablehnung führen können. Manchmal liegt ihnen Unwissen zu Grunde, manchmal aber auch tiefe Boshaftigkeit gegenüber dem Fremden. Doch nur wenn wir die Zurückweisung verstehen, können wir daran arbeiten, sie zu überwinden.

  1. Stille = Arroganz?

Einer der Top-Gründe für negative Gefühle gegenüber ruhigen Menschen ist die Behauptung, sie wären arrogant. Denn ruhige Menschen sprechen weniger, sind seltener unterwegs und nehmen sich Zeit für sich – zumindest im Normalfall.

Was viele daraus schließen, ist, dass sie nur an sich selbst denken oder nicht glauben, dass andere ihre Zeit wert wären. Das ist jedoch nur bei einer sehr, sehr kleinen Zahl von ruhigen Menschen der Fall. Viel häufiger fühlen sich Introvertierte, Hochsensible oder einfach nur leise Menschen wohler, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen. Auch brauchen sie mehr Zeit für sich, um ihre Energiereserven wieder aufzuladen. Leider nehmen es vor allem enge Freunde oder Partner dann persönlich, wenn sich jemand zurückzieht (siehe Beispiel am Ende des Beitrags).

  1. Angst vor ruhigen Menschen, weil häufig schlecht dargestellt werden

Wer ruhig ist, gibt weniger von sich Preis. Umso mehr werden die Lücken in unseren „Persönlichkeitsakten“ von anderen mit Spekulation gefüllt. Kombiniert man das dann noch damit, dass ruhige Typen in Film und Fernsehen oft als ulkig oder gar gefährlich dargestellt werden, ergibt sich ein negatives Gesamtbild. (Anmerkung: Ein „Loner“ zu sein, lohnt sich in Film und Fernsehen nur dann, wenn man ausgesprochen attraktiv ist.)

Auch wird mehr über ruhige Menschen gesprochen als mit ihnen. Dadurch entstehen Gerüchte und unvollständige Abbilder dessen, was sie wirklich sind.

  1. Angst vor ruhigen Menschen, weil sie unberechenbar sind

Wie bereits erwähnt, müssen sich andere einige Teile des Charakters selbst zusammensetzen. Das gefällt Menschen grundsätzlich nicht. Auf der einen Seite war es mal überlebenswichtig, ein Gegenüber schnell als Gefahr oder Hilfe einstufen zu können. Auf der anderen Seite sind wir es heutzutage auch einfach gewohnt, dass jeder viel von sich Preis gibt.

Ähnlich wie bei Punkt 1 und 2 verspüren andere hier eine Unzulänglichkeit und Unsicherheit. Sie wissen nicht, wie sie mit ruhigen Menschen umgehen sollen, also lassen sie es entweder ganz oder zeigen sogar offen Ablehnung. Ein trauriger Reflex, der leider dazu führt, dass ruhige Menschen sich im Laufe ihres Lebens eher mehr zurückziehen als weniger.

reden ist silber schweigen ist gold

  1. Neid, um die Fähigkeit zu schweigen

Ja, auch Neid kann eine Rolle spielen: Denn Reden ist Silber und Schweigen ist Gold. Gerne Zeit alleine zu verbringen, viel nachzudenken und wenig Unsinn zu reden, sind sehr positive Sachen. Doch besonders extrovertierte Menschen verlieren schneller Geduld oder wollen ständig soziale Kontakte haben. Es kann nicht leicht sein, andere zu sehen, die so mühelos alleine sein können oder auf Partys gehen, ohne sich herauszuputzen und eine Show zu machen.

  1. Gesellschaftsideale

Unsere westlichen (kapitalistisch geprägten) Gesellschaften belohnen Lautstärke und Selbstdarstellung. In der Schule hören die Schüler, sie hätten ja gute Noten, aber müssten sich mehr beteiligen. Ganz zu Schweigen von dem Trend, dass alles in Gruppen erledigt werden muss.

Es ist ein ewig währender Kreislauf, dass extrovertierte Menschen präsenter sind, dadurch das Ideal prägen und wiederum andere dazu bewegen, ihnen nachzueifern. Dadurch zwängen sich Introvertierte in Rollen, die ihnen nicht liegen. Intelligente Menschen werfen ihr Potential weg, um in ihrem sozialen Kreis höher angesehen zu werden. Scharlatane finden immer wieder Opfer, die sich von ihrer Überzeugungskunst blenden lassen.

Dadurch erfahren ruhige Menschen nicht nur von Einzelpersonen Ablehnung, sondern vom gesamten System, in dem sie leben. Punkte 6 und 7 sind ebenfalls Teil dieses Problems.

  1. Das Partnerideal

Durch die Gesellschaft werden logischerweise auch Ideale der Partnerwahl herausgebildet. Spontan ist eines der beliebtesten Wörter in Datingprofilen – sowohl für „gesucht“ als auch für „so bin ich“. Hinzu kommt, dass geradezu erwartet wird, dass sich jeder erst einmal besser verkauft, als er eigentlich ist.

Ruhige Menschen fühlen sich auch hier meist deplatziert. Denn wer im Dschungel kein buntes Kleid trägt und auf sich aufmerksam macht, der hat auch schlechte Karten in der Liebe. Hier ist das Internet gleichermaßen Fluch und Segen. Denn es beschallt uns zunehmend mit Idealbildern und Perfektionsansprüchen, gibt ruhigen Menschen aber auch die Möglichkeit, einen Partner auf stille und tiefgründige Art zu finden.

  1. Die Macht der (sozialen) Medien

Last but not least sind wir ständig von Medieneindrücken umgeben. Das ruhige Mädchen mit der Brille, das gerne liest/malt/Musik spielt? Am Ende des Films ist sie hübsch, aufgeschlossen und alle mögen sie deshalb.

Die erfolgreichen Influencer und YouTuber? Geben alles von sich preis und sind geradezu omnipräsent. Je mehr wir sie sehen, umso erfolgreicher sind sie. Ein Schauspieler hinterzieht Steuern, wird der sexuellen Belästigung angeklagt oder schlägt betrunken ein Hotelzimmer zusammen? Alles okay, er ist doch so charismatisch.

Ruhige Menschen nehmen weniger Platz ein und spielen sich seltener auf. Dadurch sind sie in unserer Welt manchmal messbar weniger wert. Selbst wenn Ruhm oder Aufmerksamkeit nicht das Ziele ist, kann der tägliche Umgang mit Idealen aus Gesellschaft und Medien nicht ignoriert werden, wenn es darum geht, warum sich ruhige Menschen häufig nicht wohlfühlen.

Mehr dazu: „Ich bin nicht gut genug“

bloß kein smalltalk

Verdienen es ruhige Menschen, abgelehnt zu werden?

Nein, ruhige Menschen sind grundsätzlich weder schlechter oder gefährlicher. Daher sollten sie auch nicht dafür abgelehnt werden, dass sie stiller sind. Selbstverständlich gibt es aber auch Fälle, in denen es nicht die Ruhe ist, die zur negativen Reaktion führt. Ruhige Menschen können gemein, hinterhältig oder frei von Moral sein. Doch das sind sie nicht, weil sie still sind.

Das Problem ist, dass sich immer wieder zeigt, dass sich ruhige Menschen schlecht verteidigen können, wenn sie von anderen „angegriffen werden“. Sie sind nicht schlagfertig genug oder haben kein Selbstbewusstsein. Im schlimmsten Fall glauben sie, was ihnen vorgeworfen wird und lehnen sich in letzter Konsequenz auch noch selbst ab.

Für all diejenigen, die ihre ruhigen Freunde, Verwandten oder Partner schätzen, mag das alles sehr absurd klingen. Doch hier sind (anonymisiert) einige Beiträge, in denen ruhige Menschen die Ablehnung schildern, die ihnen im Alltag begegnet.

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