Verträumte Menschen: Besonders, fantasiereich und gefährdet?

Leicht abwesend, mit dem Kopf in den Wolken und ein wenig neben der Spur – so werden verträumte Menschen häufig wahrgenommen. Es ist nicht so, dass sie die Realität vollständig ignorieren würden. Es ist aber durchaus so, dass sie oft genug entscheiden, dass ihnen ihre eigenen Gedanken, Vorstellungen und Ideen lieber sind.

Die Ursachen dafür, dass jemand verträumter ist als andere Menschen, sind zahlreich und sehr verschieden. Aus dieser Fülle an Ursachen entwächst auch eine Fülle an Folgen. Denn eine verträumte Person nutzt ihre Eigenart für Kreativität und ein schönes, erfülltes Leben. Eine andere geht vielleicht an der Verträumtheit kaputt. Verträumt zu sein, ist nicht immer eine gute Sache – aber auch nicht grundsätzlich schlecht.

Träumerisch und häufig abwesend sein

Die meisten Menschen verlieren sich von Zeit zu Zeit mal in ihren Gedanken. Weil ihnen langweilig ist, weil sie eine aufregende Idee haben, weil sie von Natur aus mit mehr Kreativität gesegnet sind. Aber verträumte Menschen gelten ja nicht als besonders, weil sie sind wie alle anderen.

Verträumtheit als Persönlichkeitsmerkmal muss schon in höherem Maße vorhanden sein. Das heißt, dass das Entfliehen in die eigene Vorstellungskraft nicht immer geplant wird. Es passiert manchmal einfach und andere Menschen bemerken es.

Somit ist jemand übermäßig verträumt, wenn das eigene Leben beeinflusst wird. Das kann negativ sein – wenn zum Beispiel Gesprächen nicht mehr gefolgt wird oder die Verbindung zu realen Ereignissen nicht mehr stark genug ist. Doch es gibt auch positive Auswirkungen, wenn sich jemand beispielsweise in langweiligen Momenten in die eigenen Gedanken begeben kann, um sich von der öden Realität abzulenken.

träumerische menschen

Verträumt sein: So fühlt es sich an

Für Menschen, die fast immer präsent sind und sich somit nicht in ihren Gedanken verlieren, ist es manchmal schwer, Verträumtheit zu verstehen. Dabei ist das gar nicht so kompliziert. Der Zugang zu diesem Phänomen steckt bereits im Namen: In Verträumtheit steckt der Traum.

Und das dürften die meisten Menschen kennen: Sie träumen etwas, wachen auf und vermissen den Traum. Klar, das geht auch manchmal schief – Albträume sind kein Spaß. Aber es fühlt sich realistisch an, ist aufregend und es werden Dinge erlebt, die gar nicht existieren dürften.

Kann man sich diese kreativen Welten und Gefühle herbeirufen, ist das schon ziemlich cool. Beim Warten auf den Zug, einer langen Autofahrt oder einer öden Telefonkonferenz ist es verlockend, der Realität zu entkommen und die Gedanken wandern zu lassen. Einige Menschen bleiben dabei nah an der Realität und denken über ihr echtes Leben nach. Andere erschaffen völlig neue Welten. So oder so ist es unglaublich spannend. Je trister und kleiner sich eine Situation anfühlt, umso schöner ist es, sie nicht erleben zu müssen.

(Aber Achtung: Manchmal sind es auch die Extremsituationen, denen jemand entkommen möchte. Verträumtheit kann auch eine Folge von Trauma sein, bei dem sich eine Art Schutzmechanismus entwickelt hat. Wer die harte Realität gegen eine selbstgeschaffene Fantasie tauschen muss, wird daraus häufig eine Gewohnheit machen.)

Ursachen: Warum sind manche Menschen verträumt?

Hat jemand viel Leid erfahren, dann kann ein kreatives Gehirn den Rückzug verkünden. Viele verträumte Erwachsene haben in ihrer Kindheit und Jugend Dinge erlebt, denen sie nicht gewachsen waren. Wiederholter seelischer oder physischer Schmerz bedroht den Körper – und unsere Körper sind gut darin, sich zu schützen. Den Einfluss des Traumas durch Flucht zu verringern, kann also überlebenswichtig sein.

Aber Achtung: Gehe nicht davon aus, dass alle verträumten Menschen Traumatisches erlebt haben. Auch eine von Natur aus stärkere Fantasie kann schon dafür sorgen, dass jemand verträumter ist. Denn irgendwo muss die Kreativität ja hin. Wer keinen Output findet – in Form von Kunst, Texten, Darbietungen etc. –, der braucht die Zeit im eigenen Kopf, um sich wohlzufühlen.

ADS, ADHS und Autismus können zu den Ursachen gehören, die „von Natur aus“ zu mehr Verträumtheit führen. Neurodiversität beschreibt die neurologische Vielfalt. Mit anderen Worten: Nicht alle Gehirne sind gleich, entwickeln sich gleich oder führen zu genormten Lebenserfahrungen. Unterschiedliche Wahrnehmung der Umgebung und des Selbst sind typisch für neurodivergente Menschen – und häufig auch eine Ursache für Verträumtheit.

verträumter charakter

Kann man zu verträumt sein?

Verträumt sein ist nicht schlecht. Aber auch nicht gut. Wie so häufig entstehen Probleme erst, wenn das eigene Leben negativ beeinflusst wird. Für verträumte Menschen heißt das zum Beispiel, dass sie ihrer Arbeit nicht nachgehen können, weil ihre eigenen Gedanken sie immer wieder ablenken. Typisch ist auch, dass mit zunehmender Abwesenheit im Alltag eine gewisse Distanz zu Mitmenschen und der Welt entsteht.

Langfristig kann sich daraus eine Depression entwickeln. Denn Verbundenheit ist ein wichtiges Bedürfnis des Menschen. Im Artikel „Einsam unter Menschen“ wird darauf genauer eingegangen. Denn es ist nicht die Anzahl der Menschen, die bestimmt, ob wir uns verbunden fühlen. Überall und jederzeit kann Einsamkeit auftreten. Und diese geht Hand in Hand mit dem Gefühl, irgendwie nicht dazu zu gehören.

Die Huhn-und-Ei-Frage stellt sich: Sind traurige oder depressive Menschen eher anfällig für übermäßige Verträumtheit? Oder führt Verträumtheit zu negativen Gefühlen? Das kommt wohl ganz auf den Einzelfall an. Aber es bleibt festzuhalten, dass verträumt sein durchaus schlecht ist, wann immer jemand dadurch nicht mehr die Nähe zu Menschen oder den Zugang zur Umwelt spürt, die er braucht, um ein zufriedenes Leben zu führen. Meist spricht man hier nicht mehr von verträumt, sondern von realitätsfremden oder abwesenden Personen.

Verträumte Erwachsene: ein Problem oder ein Vorteil?

Kindern wird verträumtes Verhalten oftmals eher verziehen als Erwachsenen. Manche Kinder sind halt so. Aber Erwachsene? Die dürfen sich doch bitte mal zusammenreißen! Hier die wichtige Nachricht: Du allein bestimmst, ob deine verträumte Art gut oder schlecht ist. Das hat niemand sonst zu bestimmen.

Denn nahezu jeder Erwachsene, der mal abschaltet, viel nachdenkt oder ungewöhnliche Ideen hat, wird von den „Normalos“ erst einmal als komisch verbucht. Introvertierte Menschen hören ständig, dass sie komisch seien, weil sie nicht so viel reden, Zeit allein genießen und mit wenigen sozialen Kontakten total zufrieden sind. Dieser gesamte Blog widmet sich der Aufklärung solcher Vorurteile beziehungsweise Verurteilungen.

Die Gesellschaft und einzelne soziale Gruppen können dir aus allem einen Strick drehen. Zu leise, zu laut, zu verträumt, zu direkt, zu seltsam, zu normal – alles was du tust und sagst, kann gegen dich verwendet werden. Du hast das Recht zu schweigen – aber bitte nicht zu lange, sonst kommt die Extro-Polizei.

Die meisten Menschen, die nicht zwanghaft versuchen, ihre kreative und verträumte Art zu unterdrücken, können absolut zufrieden leben. Sie schätzen, dass ihr Gehirn ihnen Auswege, Pausen und neue Welten und Ideen verschafft. Zum Glück scheint sich da auch einiges getan zu haben, da gerne mal alte Ideen aufgebrochen werden, wenn es darum geht, was denn einen „normalen Erwachsenen“ ausmacht.

(Übrigens: Viele verträumte Menschen gehören zum Persönlichkeitstyp Mediator nach Myers-Briggs: INFP Persönlichkeit.)

mediator persönlichkeit

Das spricht für mehr Träumerei im Alltag

Ich kann problemlos etliche Gründe dafür finden, warum verträumt sein besser ist, als nicht verträumt sein. Die Chancen stehen allerdings gut, dass du das etwas anders sehen wirst. Mein Top-Argument ist beispielsweise, dass die aktuelle Weltlage eine Belastung ist und jeder mit einer verträumten Art sich notwendige Pausen gönnen kann und sollte.

Dafür ist Übung notwendig. Denn kombiniert man viele Gedankengänge mit Ängsten, Schüchternheit oder Sozialphobien, können die ratternden Ideen auch schnell eine falsche Realität erzeugen, die belastet. Ich propagiere hier daher eine echte Realitätsflucht. Nach dem Kinobesuch sind wir alle Avengers, Romcom-Protagonisten oder Halbgötter. Beim Bahn- oder Autofahren aus dem Fenster zu schauen und Musik zu hören, heißt wirklich, dass wir in einem Musikvideo sind. Natürlich gewinnen wir alle im Lotto und müssen rechtzeitig planen, was wir mit dem Geld machen!

Kreativität ist eine Gabe und das Träumen kann sie fördern. Menschen in kreativen Berufen würden ihre verträumte Art nie aufgeben. Kindern sagen wir sogar nach, dass ihre kindliche Weltsicht ein Segen ist. Also warum kriegen wir Schnappatmung, wenn Erwachsene mal keinen Bock auf Klimakrise, politische Debatten, Twitter-Shitstorms, Geldprobleme und Arschgeigen haben? Kaum eine verträumte Person verweigert sich der Realität – aber wir nehmen uns halt Auszeiten. Menschen, die dagegen schießen, scheinen mir doch etwas neidisch zu sein.

Realitätsfluch darf kein Dauerzustand werden

Verträumte Menschen in die Realität zurückholen, ist nicht deine Aufgabe – mit wenigen Ausnahmen. Natürlich kann es passieren, dass Menschen vergessen, was wahr ist und was nicht. Beziehungen sind dafür besonders anfällig: Häufig wird eine Idee von einer Person erträumt, die aber in Wahrheit ganz anders ist. Das schafft unerreichbare Erwartungen oder sogar toxische Beziehungen.

Auch Kollegen, die ihren Job nicht machen, weil sie lieber aus dem Fenster schauen und Drachen erlegen, Popstars werden oder der Liebe ihres Lebens am Flughafen nachlaufen, dürfen natürlich nicht als Ausrede einfach sagen: Bin halt verträumt. Du darfst definitiv Leistung erwarten und Probleme ansprechen.

Problematisch ist eigentlich nur, wenn du jemandem die Verträumtheit zum Dauervorwurf machst. Jemand müsse endlich erwachsen werden – eine sehr beliebte Forderung, die meist nicht sonderlich erfolgreich ist und viel zu häufig diejenigen trifft, die eigentlich sehr zufrieden sind. Somit gilt: Das Ansprechen von Verträumtheit ist eine Kunst.

Fazit: Fantasie ist ein Geschenk, das nicht leichtfertig genossen werden sollte

Ich persönlich weiß meine verträumte Art sehr zu schätzen – und stolpere auch manchmal über sie. Sich über Stunden in Tagträumen zu verlieren, ist nicht produktiv oder sinnvoll oder notwendig. Die Sache ist aber die: Nur ich kann daran etwas ändern. Von außen zu versuchen, mich weniger verträumt zu machen, würde niemals funktionieren.

Und so geht es wohl den meisten verträumten Menschen. Wir wissen ja, dass wir ein wenig von der Norm abweichen. Aber dafür bekommen wir auch Ideen, Welten oder Erlebnisse, die sonst keiner kennt. Wir können langweilige Momente zurückerobern.

Es lauert immer die Gefahr, die (oftmals beschissene) Realität dauerhaft zu ignorieren. Ich glaube aber, solange du dir dessen bewusst bist, wirst du auch stets den Weg zurückfinden. Gerade in der Diskussion rund um verträumte Erwachsene fehlt mir, dass uns ja alle Mittel zur Verfügung stehen, um das richtige Maß zu finden. Das heißt für mich eher „erwachsen sein“. Einen wichtigen Teil der eigenen Persönlichkeit zu unterdrücken, halte ich hingegen eher für albern, kindlich und komisch. Was meinst du?

2 Kommentare

  1. Hallo Jennifer,

    ich danke dir sehr für deinen Beitrag. Ich bin schon 25 Jahre alt und habe mich heute zum ersten Mal darüber erkundigt, was verträumt sein eigentlich bedeutet. Ich wollte dieses Persönlichkeitsmerkmal nie akzeptieren weil ich als Krankenschwester arbeite und ich dadurch das Gefühl hatte, dass ich in meiner Leistung gehindert werde.
    Heute hat mir eine Kollegin gesagt, dass alle ja wissen dass ich manchmal in Gedanken bin. Nach dem Motto „alles gut, wir akzeptieren dich“. Es war zwar nett gemeint, hat mich aber doch getroffen, obwohl ich weiß, dass ich manchmal unkonzentriert wirke. Auch wie du es beschreibst fühle ich mich den anderen oft nicht zugehörig, als wäre ich anders gepolt.
    Jedenfalls fand ich deine Erklärungen und Beschreibung sehr auf den Punkt gebracht und es war schön zu lesen, welche positiven Seiten das verträumt sein mit sich bringt. Wenn ich darüber nachdenke, gibt mir diese Eigenschaft wirklich viel Freude und Spannung im Leben.
    Danke, heute konnte ich etwas über mich lernen und ich möchte mir auf jeden Fall dein Buch kaufen.

    Liebe Grüße
    Nikola

    • Hallo Nikola,

      vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Genau dafür gibt es diesen Blog: Damit verträumte, introvertierte, ruhige, sensible und anderweitig irgendwie „besondere“ Menschen ein wenig Verständnis bekommen. Auch wenn es dich ein wenig getroffen hat, finde ich es sehr schön, dass deine Kollegen dich so akzeptieren, wie du bist – das ist alles andere als selbstverständlich.

      Liebe Grüße
      Jennifer

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