Negative Gedanken führen zu Stress, Depression und somit Unglück. Im Umkehrschluss muss das doch bedeuten, dass positive Gedanken die Lösung für nahezu all unsere Probleme sind, nicht wahr?
Leider nein. Denn es gibt so viele Wege, die uns angeblich zu einem besseren und glücklicheren Leben führen sollen, dass wir statt Erfüllung plötzlich Leid erfahren. Wenn Positivität und Optimismus niemals hinterfragt werden, werden sie toxisch.
In diesem Beitrag erfährst du daher, was toxische Positivität ist, wie man sie erkennt und was man gegen sie tun kann. Außerdem gibt es ein paar Sprüche, die vermeintlich nicht positiv genug sind, aber sehr gut ausdrücken, warum auch negative Gefühle und Dinge zu unseren Leben dazugehören.
Außerdem zum Schluss: Eine Video- und eine Beitragsempfehlung, die das Thema ergänzen, falls du mehr wissen möchtest oder ein praktisches Beispiel brauchst.
Was ist Toxic Positivity?
Der Begriff Toxic Positivity ist im englischsprachigen Raum bereits verbreiteter als in Deutschland. Die 1 zu 1 Übersetzung lautet: toxische Positivität. Wie so häufig sind die Grenzen zwischen verschiedenen Konzepten hier fließend: positives Denken und Positivität sind nicht exakt dasselbe.
Wir können jederzeit positiv denken – „Es wird alles gut“. In jeder Situation können wir neu entscheiden, wie positiv wir sein wollen. Positivität beschreibt eine Grundhaltung gegenüber dem Leben, bei der Dinge nicht beschönigt werden, aber trotzdem im Zweifel auf gute Art interpretiert werden – „Es wird vielleicht nicht alles gut, doch ich sehe die guten Dinge dieser (und jeder anderen) Situation“.
Es gibt noch etliche weitere Definitionen. Doch schon diese kleine Unterscheidung geht für die eigentliche Idee zu weit. Denn der Grund dafür, dass wir über toxic positivity reden müssen, ist eben genau der: Es geht um Oberflächlichkeit. Weil genau das in vielen Bereichen der Optimismusbewegung, Positivitätsentwicklung oder Selbstoptimierung gang und gäbe ist. Und dann wird es toxisch.
Unterschied zu guter Positivität
Die Idee hinter einer positiveren Einstellung zum Leben ist recht simpel: Wer sich auf das Gute konzentriert, lebt ein besseres Leben. Außerdem ein produktiveres, was ohnehin das Wichtigste überhaupt zu sein scheint.
Dagegen lässt sich auch herzlich wenig sagen, denn die Wissenschaft bestätigt es: Ein optimistischer Ausblick auf die Welt und ihre Probleme hilft der mentalen und physischen Gesundheit (Quelle: Optimism and Mental Health).
Das soll auch überhaupt nicht angezweifelt werden, genauso wenig wie all die Menschen, die sich on- und offline mit diesem Thema beschäftigen oder die Message dahinter sogar aktiv verbreiten. Das ist eine gute und wichtige Aufgabe, keine Frage.
Doch auch zu viel einer guten Sache kann diese Sache irgendwann schlecht machen. Ein Stück (dunkle) Schokolade hat einen positiven Effekt auf unsere Stimmung und unsere Gesundheit. Eine Tafel nicht mehr.
Bei der toxischen Positivität wird aus einer Idee für ein verbessertes Leben die einzig wahre Lebensweise. Die Scheuklappen gehen runter, die Erleuchtung liegt hinter uns, wir wissen, was gut und richtig ist.
Eine Idee unhinterfragt zu verfolgen und gleichzeitig zu predigen, ist niemals gut. Wirklich niemals. Die großen Denker der Gegenwart und Vergangenheit besaßen die Fähigkeit, ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen. Die großen Nicht-Denker unserer Zeit können das nicht oder hat Donald Trump schon einmal gesagt: „Ich habe einen Fehler gemacht und lag falsch“?
Wenn Positivität auf absolut jede Situation angewandt wird und keinerlei Widerspruch mehr zulässt, wird sie toxisch. Sie wird also ihr eigener schlimmster Feind. Denn wenn wir negative Ereignisse und Gedanken vollständig verbannen, woran erkennen wir dann eigentlich die guten?
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Warum ist Toxic Positivity so gefährlich?
Keine Sorge es wird nun endlich konkreter. Es gibt etliche Auswüchse von toxischer Positivität, die gerade erst nach und nach aufgedeckt werden. Denn Gurus, Lebenshelfer und Coaches werden nicht gerade seltener und eine positive Einstellung in tausend verschiedenen Formen ist eigentlich immer ihre Kernthese. Hier ein paar Beispiele:
- Hinterfrage dich nicht, du bist schon mega geil
- Schau niemals zurück, deine Vergangenheit ist nicht wichtig
- Sei optimistisch, nichts, was dir passiert, sollte dich negativ beeinflussen
- Alle deine Probleme können gelöst werden, indem du nur deine Einstellung änderst
Newsflash: Wir sollten unser ganzes Leben lang lernen; unsere Vergangenheit zu verstehen, ist wichtig, um uns selbst zu verstehen; schlechte Dinge passieren und negative Gefühle gehören zum Leben dazu und last but not least: Eine positive Einstellung macht niemanden wieder lebendig, spült nicht sofort das notwendige Geld in die Haushaltskasse und ändert auch nichts an den systematischen Problemen unserer Welt, die vielen Menschen miserable Startbedingungen im Leben verpassen.
Hoffentlich wird bereits klar, worauf wir hinauswollen: Absolute Aussagen sind in der Positivitätsgemeinde unglaublich beliebt, sind aber genau der Punkt, der sie toxisch werden lässt.
Denn wir sagen ja auch jemandem, der immer als schwarzmalt, dass seine Einstellung zu einseitig ist, nicht wahr? Also ist das andere Extrem – das Abblocken alles Negativem – eine ebenso problematische Sache.
Schlechte Gefühle und Dinge leugnen ist toxisch
Menschen, die sich der (toxischen) Positivität vollständig verschreiben, beginnen irgendwann, negative Erfahrungen zu leugnen. Und das sowohl bei sich selbst als auch bei anderen. Sie erlauben sich gar nicht mehr, traurig über den Verlust eines Familienmitglieds zu sein oder darüber, dass sie einen Job nicht bekommen haben, für den sie klar qualifiziert waren.
Das Fühlen negativer Emotionen ist jedoch wichtig. Der gesunde Bereich der Positivity-Gemeinde weiß das auch und sagt ganz klar: Lass die Emotionen zu und verarbeite sie rechtzeitig. Doch die andere Seite sagt: Alles ist eine Chance, so schlimm ist das gar nicht, wer sich schlecht fühlt, ist daran selbst schuld. Gerade die Schuldzuweisung kann einen Menschen, der ohnehin schon am Boden ist, noch weiter erniedrigen.
Gefühle und die Welt sind kompliziert
Um so überhaupt denken zu können, müssen die Welt, ihre Ereignisse und unser eigenes Leben massiv vereinfacht werden. Denn wenn wir Komplexität zulassen, können wir nicht in schwarz-weiß Denken.
Ständiges Lächeln, Lachen oder optimistisches Denken lässt nur die gute Seite einer Sache gelten. Obwohl Schmerz, Gefühle und Wachstum allesamt in Grautönen auftreten.
„Ich habe gelernt, gekämpft und mich perfekt vorbereitet, trotzdem habe ich die Prüfung nicht bestanden – kein Problem, das ist nur eine weitere Chance, alles ist bestens, einfach so weiter machen!“
Vs.
„Ich habe gelernt, gekämpft und mich perfekt vorbereitet, trotzdem habe ich die Prüfung nicht bestanden – ich bin enttäuscht, weil ich mich angestrengt habe und trotzdem verloren habe. Ich möchte herausfinden, was passiert ist und was mein Fehler war und/oder ob einfach die Umstände nicht gepasst haben.“
Beispiel Nummer 1 erlaubt nicht, sich schlecht zu fühlen. Dabei ist Enttäuschung völlig normal, wenn wir sehr viel investieren, dann aber keine Belohnung in Form einer guten Note, Anerkennung oder Geld bekommen. Wenn Aufwand und Ertrag nicht im Einklang sind, hat etwas nicht funktioniert und das darf als Problem gesehen werden.
Denn Beispiel 2 erkennt, dass etwas nicht richtig gelaufen ist und will herausfinden, was es ist. Weil sich der Idee einer schlechten Erfahrung nicht verweigert wird, kann sie genutzt werden, um zu lernen und sich zu entwickeln. Das ist nur schwerer und wird damit von denjenigen abgelehnt, die glauben, alles könnte mit Ignoranz (= unhinterfragtem Optimismus) gelöst werden.
Verlieren kann positiv sein
Wer sich schlechten Dingen verweigert und die Welt so weit vereinfacht, dass sie nur noch auf eine Art gesehen werden kann, verliert sich selbst. Auf wirtschaftlicher Ebene mag es so sein, dass ein strikter und funktionierender Mensch etwas Gutes ist. Doch auf persönlicher Ebene wissen wir alle zu schätzen, wenn jemand Ecken und Kanten hat.
Aber wo ist der Charakter, wenn alles immer nur gut ist? Was uns ausmacht, sind unsere Erfahrungen und unsere Reaktionen darauf. Mit einer toxisch positiven Einstellung verliert jedoch alles an Wert und kann uns dadurch auch nicht mehr prägen.
Wenn wir nur alles positiv sehen, wird auch alles gut. Nein, wird es nicht. Denn wenn wir uns selbst nicht mehr erlauben, Schmerz zu fühlen, wer sind wir dann noch? Man zeige mir einen prägenden Menschen der Geschichte (oder auch des eigenen Lebens), der nicht durch seine negativen Lebensereignisse geprägt wurde.
Blind, taub und in gewisser Weise stumm werden wir, wenn wir Schmerz, Scheitern und Ungerechtigkeit nicht mehr anerkennen. Was hat ein Freund noch zu sagen, wenn er auf jedes Problem antwortet: Du musst nur positiv denken, so schlimm ist das gar nicht, denk nicht mehr darüber nach.
Was halten wir denn von Unternehmern, die ihre Firmen gegen eine Wand fahren, weil sie immer weiter machen, egal, was die Fakten sagen oder auf welche Probleme sie hingewiesen werden?
Wie fühlen wir uns, wenn jemand Corona als unwichtig oder als Kleinigkeit abstempelt, weil er oder sie die Augen davor verschließt, wie viele Menschen darunter leiden?
Wahre Positivität glaubt daran, dass aus jeder Sache – gut, schlecht oder neutral – auch etwas Gutes erwachsen kann. Sie propagiert eine vorwärtsdenkende Lebenseinstellung, die Leiden als Teil des Lebens sieht, nicht aber als dessen Sinn.
Sprüche zu Positivität
Eine positive Lebenseinstellung ist gut und wichtig. Die Wissenschaft untersucht schon lange – und wird damit auch nicht aufhören – wie unsere Denk- und Verhaltensweise unser Glück und somit unsere Körper beeinflusst.
Doch sobald Geld im Spiel ist, kann eine Sache auch tragisch werden. Menschen, die auf der Suche nach Halt oder Veränderung sind, landen in einer Gemeinschaft, die Heilung und Glück verspricht, während sie gleichzeitig das Recht auf Schmerz aberkennt. Denn mit dem Versprechen auf Glück kann ordentlich Schotter gemacht werden – aber nur, wenn die Menschen das Glück niemals ganz finden oder gar selbstständig werden.
Es ist nicht immer Geld, das als Motivation für falschen Optimismus gilt. Oftmals glauben die Vertreter dieser Denkart, sie würden anderen helfen. Das macht es jedoch nicht in Ordnung. Also müssen wir auch über Optimismus und Positivität kritisch nachdenken, obwohl es auf den ersten Blick so einfach scheint: Denk an gute Dinge und alles ist gut.
Da in diesem Text so viele Negativbeispiele angeführt wurden, soll zum Abschluss eine kleine Wende geschehen. Hier folgen also Zitate und Sprichwörter, die eine positive Einstellung propagieren, ohne Negatives ausmerzen zu wollen.
„Einige Leute murren immer, weil Rosen Dornen haben; ich bin dankbar, dass Dornen Rosen haben.“ Alphonse Karr
„Wenn du fünfmal hinfällst, stehe sechsmal wieder auf.“ Sprichwort*
„Obwohl die Welt voller Leid ist, ist sie auch voll von dessen Überwindung.“ Helen Keller
„Ich kann das Wetter nicht kontrollieren, doch ich kann einen Regenschirm mitnehmen.“ Sprichwort
„Aus Leid sind die stärksten Seelen hervorgegangen; die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät.“ Kahlil Gibran
„Eine ruhige See hat nie einen fähigen Seemann hervorgebracht.“ – Afrikanisches Sprichwort
*Ich mag diesen Spruch persönlich nicht,
denn wenn du fünfmal hinfliegst,
musst du auch nur fünfmal wieder aufstehen…
Wenn dir jemand sagt, dein Schmerz oder deine negativen Gefühle wären wertlos oder unberechtigt, dann dreh dich um und geh. Er oder sie wird dich niemals ernst nehmen können und dir auch niemals helfen.
Das ist keine wahre Positivität, das ist die toxische Variante. Jetzt, da wir darüber geredet haben, erkennst du diesen kleinen Teil einer sonst tollen Gemeinschaft, die sich in so vielen Formen und Farben zeigt, und läufst nicht mehr Gefahr, ihr zum Opfer zu fallen.
Stattdessen sollten wir uns auf Menschen wie Amy Morin konzentrieren, die in dem nachfolgenden TedTalk mein Verständnis von Positivität ziemlich gut zum Ausdruck bringt (leider nur in Englisch verfügbar):„The Secret of Becoming Mentally Strong.“
Update: Eine interessant Arte-Doku zum Thema Persönlichkeitsentwicklung findest du hier: Glücklichsein um jeden Preis.
Ein Beispiel in Textform, das die Neubetrachtung eines Themas zeigt, ist folgendes:
Sind Menschen wirklich so anstrengend oder bin ich zu negativ?
Muss man nicht doch 6 Mal aufstehen? Um das erste Mal hinfallen zu können, musst du bereits 1 Mal aufgestanden sein oder nicht? 🙂
Mir gefällt dein Artikel!
Dann kommt es ganz darauf an, wie die Ausgangslage aussieht. Ich starte bei dem Gedanken „aufrecht“, weil ich die Verbindung zwischen dem Wiederaufstehen und dem Hinfallen mache – theoretisch bin ich ja freiwillig „nicht stehend“ gewesen, als ich das erste Mal aufstehe, also nicht gefallen. Für mich (persönlich!) startet diese Weisheit also schon gegenüberstehend.
Interessante Diskussion wirklich, aus der man sicherlich den ein oder anderen Gedanken ableiten könnte, wie ein Mensch sich selbst in Angesicht eines Problems/Rückschlags sieht.
PS: Vielen Dank für das Feedback 🙂
Liebe Grüße
Jup, ich bin einfach davon ausgegangen, das man z.B. morgens aus dem Bett erstmal aufstehen muss.
Bezogen auf das Hinfallen / Aufstehen habe ich noch zwei Gedanken.
Einmal dass mentale Stärke etwas mit der Stärke der eigenen Physis zutun hat und diesbezüglich ist die Liegestütz eine schöne Übung um sich selbst zu beweisen, dass man aufstehen kann. Und das andere ist, dass man beim Sport oft denkt, dass man nicht mehr kann und so viel mehr in einem steckt. Man muss es sich nur selbst erlauben. Also dadurch, dass man sich in der anstrengenden Situation bewusst für seine eigenen Taten entscheidet. z.B. Ich schaffe das, ich höre nicht auf meinen Affen im Kopf (bildlich gesprochen), der mir sagt, dass ich nicht mehr kann. Sondern schaut, was genau ist der Auslöser, dass ich jetzt zu diesem beschwerenden Gedanken komme, um ihn anschließend fallen zu lassen. Dadurch wird es leichter.
Gerne, hat sich wirklich gut lesen lassen!
Alles Gute dir!
hier noch ein super Lied um wieder aufzustehen 🙂 – johnny nash – i can see clearly now
Hey, danke für den Kommentar. Ich persönlich bin zwar kein Fan von Liegestützen, aber bin gerne zu Fuß unterwegs – auch da sind es kleine Veränderungen und das wieder und wieder ein paar hundert Meter weiter als beim letzten Mal eine Art „Aufstehen“ 🙂
Liebe Grüße
Das ist ein guter Artikel. Hab den über toxische Negativität auch gelesen.
Beide Seiten einer Medaille neutral abwägen und konstruktiv an die Sache herangehen ist gut.