Extrovertierte Menschen nerven: Tag der Abrechnung

Wir Introvertierten sind häufig ziemlich harmoniebedürftig. Vorurteile oder oberflächliche Bemerkungen sind irgendwie nicht unser Ding. Doch manchmal, nur manchmal, da möchte man einfach mal nicht an die Konsequenzen denken und alles einfach rauslassen. So richtig, mit Schmackes!

Hier kommt also die Wutrede, die schon lange überfällig war. Ja, wir lieben unsere extrovertierten Freunde, wir wollen sie auch behalten. Ohne sie wäre die Welt irgendwie blöd und wir würden sie sicherlich vermissen. Aber grundsätzlich? Grundsätzlich muss endlich gesagt werden: Extrovertierte Menschen nerven!

(Bevor du mir vorwirfst, Unruhe zu verbreiten oder Extrovertierte alle in einen Topf zu stecken, lies bitte bis zum Schluss. Dieser Artikel hat eine sehr bestimmte Zielgruppe. Ich hoffe, du bewertest ihn auch entsprechend, sonst kann er leider nicht wirken.)

Ein Brief an die Extrovertierten dieser Welt

Ja, hallo, lieber Extrovertierter. Du könntest etwas überrascht sein, dass ich dich darauf reduziere, dass du extrovertiert bist. Willkommen in meiner Welt. In der ich komisch bin, weil ich kein Problem damit habe, alleine zu sein, mich mit Natur zu umgeben oder Texte zu schreiben, statt anzurufen. Ich bin introvertiert. Was viele von deiner Sorte gleichsetzen mit schüchtern, eigenartig und hilfsbedürftig.

Auch dass ich über Dinge länger und intensiver nachdenke und nicht einfach sage, was mir in den Sinn kommt, wird mir angekreidet – hast du eine Ahnung, wie oft Leute von mir genervt sind, weil ich Fehler in ihren Aussagen und Denkweisen finde? Sehr, sehr häufig. Wir „Intros“ nerven, weil wir Dinge nicht einfach hinnehmen, sondern überdenken? Logik Error 404 not found. Spar dir das lässige Abwinken, als wäre ich nur zu pingelig. Es braucht in dieser Welt auch Menschen, die ihre und andere Meinungen hinterfragen. Also hier, ich geb‘ dir deinen aus Verlegenheit abgegebenen Kommentar zurück und hoffe, dass du auch mal doppelt und dreifach über etwas nachdenken kannst. Lieber Extro, ich muss nicht nur nicht von dir gerettet werden, ich habe auch tolle Fähigkeiten, die dir vielleicht fehlen.

ins wort fallen

Diese Menschen, die mich retten oder belächeln wollen, sind meistens Extrovertierte. Denn du und deine sozialaffinen Kollegen seid der Grund, warum ich genau hinhören muss, um durchzusehen und zu verstehen. Ihr verbringt so viel Zeit damit, zu reden und aktiv zu sein, dass ihr vergesst, dass ihr nicht immer etwas zu sagen habt. Manchmal, oh weh, oh weh, nervt ihr damit sogar richtig!

Denn ihr redet ja nicht nur, wenn ihr gefragt werdet. Nein, ihr müsst grundsätzlich euren Senf dazugeben. Da bleiben wir Introvertierten schon mal auf der Strecke. Denn ihr springt von einem Thema zum nächsten zum übernächsten und von der nächstbesten Themenklippe. Während wir noch immer bei Thema eins sind, zu dem wir gerne mehr erzählen und hören würden. Aber dann müssten wir doch nur mal was sagen, nicht wahr?

Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie anstrengend es für uns ist, euch ständig zuhören zu müssen? Dass ihr dann auch noch die Dreistigkeit oder Ignoranz besitzt, oftmals über unsere Köpfe hinweg zu reden oder uns zu unterbrechen, schießt den Vogel ab. Wenn ihr mehr Lautstärke und Durchsetzungsvermögen von uns „Intros“ einfordert, dann weil ihr glaubt, ihr seid die wahren Könner und Bestimmer. Wir müssten mal auf euer Level kommen, oder?

Doch dass wir euch zuhören, seht ihr als gegeben an. Ihr glaubt wirklich, ihr wärt permanent interessant. Newsflash: Seid ihr nicht. Small Talk über das Wetter ist nicht cool. Eine gefühlte Ewigkeit über Fußballspiele zu philosophieren, wenn euch jemand gegenüber sitzt, der Fußball hasst, nicht cool. Eine Frage durchzudiskutieren, ohne uns nach unserer Meinung zu fragen, nicht cool. Mehr Mitreden einfordern und dann direkt wieder unterbrechen, nicht cool.

extrovertierte verhaltensweisen

Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich nicht mit euch reden wollen. Doch Verzeihung, wir möchten bitte auch etwas aus dem Gespräch (!) mitnehmen. Dafür müssen wir wohl oder übel zu Wort kommen und für länger als 30 Sekunden bei einem Thema bleiben.

Denkt ihr eigentlich manchmal darüber nach, dass wir möglicherweise kompetenter sind als ihr? Einfach weil wir mehr Zeit mit Dingen und Themen verbringen, die ihr abarbeitet wie andere ihren Instagram-Feed?

Doch ihr lasst uns gerne hilflos und ziellos wirken. Indem ihr nämlich die Zügel in die Hand nehmt und bestimmt, was gut ist und was nicht. Partys, Gruppen, Öffentlichkeit, Abenteuer, Lautstärke – gute Sachen, weil sie euch Spaß machen. Na gut, dann ist das halt euer Ding.

Sobald wir aber davon abweichen, weil wir absagen, uns zurückziehen oder sogar Kritik üben, werden wir sofort als komisch oder gar problematisch abgestempelt. Was zur Hölle soll das? Seid ihr wirklich arrogant genug, zu glauben, ihr wärt die oberste Instanz zum Thema „Gut und richtig“?

extrovertiert arrogant

Nun gut, es ist ja nicht so, als gäbe es besonders viel Gegenwind für euch. Ganz im Gegenteil. In der Schule wird euer Reden gefördert, ihr bekommt soziale Bestätigung und der Kapitalismus mag euch genau so, wie ihr seid. Der ständig beschäftigte und unaufhörlich aktive Mensch kauft gerne eine, braucht Streicheleinheiten für sein Ego und muss unbedingt etwas darstellen, um glücklich zu sein. Also warum solltet ihr nicht glauben, dass ihr das Maß aller Dinge seid?

Ganz einfach: weil das eine Illusion ist. Jeden Tag erscheinen dutzende Artikel zum Thema Stress und dessen Auswirkung auf Körper und Psyche. Minimalismus, Yoga, Buddhismus erleben auch keine Renaissance, weil alles so geil für uns Menschen läuft. Trotz Wohlstandes ist die Welt gerade nicht mit zufriedenen Menschen übersät, oder?

Dass Extroversion idealisiert und Introversion abgelehnt wird, hat einen Anteil an diesem Zustand. Und anstatt von Menschen wie uns zu lernen, die wissen, wie man schweigt und sich Zeit nimmt, werden wir auf die Bank gesetzt oder ausgelacht. Da brechen dann auch bei uns mal alle Dämme und wir teilen aus. Eure Blicke, wenn wir mal den Mund aufmachen und laut werden, sind übrigens unbezahlbar.

introvertiert nachteile

Also sorry, aber ihr nervt. Es ist anstrengend, wieder und wieder mit den vermeintlichen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert zu werden, während man die tatsächlichen Fehler in euch sieht. Wir wollen verstehen, zuhören, erleben. Ihr wollt zu oft darstellen, auffallen, durchs Leben sprinten.

Und dann gibt es ja noch die extrovertierten Masterexemplare, dessen Mission es ist, uns runterzumachen. Ihr übergeht uns nicht, ihr greift uns an. Weil wir voll komisch sind. Weil wir nicht klarkommen. Weil wir anstrengend sind. Weil das doch nicht normal ist, wie wir sind. Wir seien alles, was am modernen Menschen falsch sein. Wir mit unserer Zufriedenheit mit uns selbst, urgh kotz würg.

Ihr Deppen habt jetzt mal Sendepause. Eure arrogante Art nervt! Ständig unterwegs zu sein, Menschen wie Toilettenpapier abzuarbeiten und niemals die Beißerchen zu schließen, hat nichts, aber auch absolut gar nichts mit einer natürlichen oder richtigen Lebensweise zu tun. Das behauptet ihr nur, um euch besser zu fühlen und uns anzugreifen.

Damit ist nun Schluss. An sechs Tagen in der Woche nehmen wir einfach hin, dass die Gesellschaft euch bevorzugt. Aber heute ist Tag sieben und während Gott die Füße hochlegt, machen wir den Mund auf. Um euch zu sagen: Ihr nervt.

extrovertierte sind anstrengend

Extrovertiert zu sein, bedeutet nicht, besser zu sein. Also hört auf damit, uns als entbehrlich, überflüssig oder arrogant abzustempeln. Wir werden uns nicht dafür entschuldigen, dass wir auch ganz gut ohne die ständige Bestätigung unserer Umwelt klarkommen. Auch nicht dafür, dass wir euer oberflächliches Geplapper als das ansehen, was es ist: geklaute Lebenszeit.

Wir leiten Firmen, sind Künstler, entdecken die Welt und führen tolle Beziehungen. Wir stehen euch in nichts nach, was von Bedeutung ist. Es reicht nicht, dass ihr aufhört, uns von oben herab zu betrachten, ihr müsst auch endlich lernen, uns zu schätzen zu wissen. Denn wie gesagt: Wir kommen auch ohne euch klar. Aber wie sieht es bei euch aus, wenn plötzlich keiner mehr zuhört?

gute zuhörer extrovertiert


Puh! Das musste mal raus. Wie eingangs erwähnt, ist das eine Abrechnung, kein adäquates Menschenbild. Ich persönlich habe einige der hier aufgezählten negativen Verhaltensweisen früher auch an den Tag gelegt – und das als Introvertierte. Wir nerven nämlich auch. Einige von uns verfallen ins Jammern oder sehen in Extrovertierten tatsächlich Feinde. Das ist natürlich genauso absurd wie das völlige Ablehnen aller introvertierten Eigenarten.

Außerdem bin ich großer Verfechter der Meinung, dass jeder Mensch ein soziales Umfeld haben sollte, dass aus Introvertierten, Ambivertierten und Extrovertierten besteht. Wer nicht eingefahren sein will in seinen Denk- und Verhaltensweisen, der profitiert von einem diversen sozialen Umfeld.

Ich schwöre, ich habe eigentlich nichts gegen Extrovertierte – einige meiner besten Freunde sind extrovertiert! Aber ich weiß nun mal auch, dass viele Intros es noch deutlich schwerer haben als ich. Weil sie nun mal kein verständnisvolles Umfeld haben. Und genau für diese Introvertierten ist diese kleine Wutrede gedacht. Sie ist stets mit einem Augenzwinkern zu lesen.

Wer einen etwas fundierteren Blick auf die Rolle von Introvertierten in der Gesellschaft haben möchte, kann es mit meinem Buch Introvertierte Weltveränderer: Moderne Probleme, introvertierte Lösungen versuchen. Oder aber, du willst erst einmal schauen, ob ich wirklich auch alle Seiten betrachten und vernünftig sein kann. Dann empfehle ich einen (frei verfügbaren und kostenlosen) Text wie Menschen bedeuten Stress:

„Die Gründe dafür, dass andere Menschen Stress verursachen, sind zahlreich. Einige Menschen sind aufdringlich oder unhöflich und rauben Energie. Die Ursache kann aber auch in Hochsensibilität, Introversion oder einem generell falschen Umfeld liegen. Es lohnt sich also, auf Ursachenforschung zu gehen und zu schauen, woran es vielleicht bei dir liegt, dass dich Menschen stressen. Denn nur wer die Ursache kennt, kann sinnvolle Lösungen ableiten. Aber Achtung: Die Chancen stehen gut, dass Menschen dich immer irgendwie auch stressen werden.“

3 Kommentare

  1. Danke für diese in der Tat längst überfällige Wutrede. Ich weiß nicht, wie oft ich beim Lesen gegrinst und mit dem Kopf genickt habe. Zweifellos eine Abrechnung, bei der die (meisten) Introvertierten Erleichterung spüren werden, so wie ich. Allerdings ist zu befürchten, dass dieser Brief jene Menschen, an die er gerichtet ist, kaum erreichen wird.

    Wie viele Extrovertierte sind ernsthaft bereit, über einen längeren Text mit Tiefgang nachzudenken? Bei den meisten scheitert es doch schon an der Bereitschaft, einen solchen Text wenigstens mal zu lesen. Eventuell lesen sie die ersten beiden Absätze, bevor sie sich achselzuckend wieder mit irgendwelchen oberflächlichen Dingen beschäftigen. Und selbst wenn ein typisch Extrovertierter bis zum Ende liest, heißt das noch lange nicht, dass er den Inhalt auch reflektiert oder sogar versteht.

    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es schwierig bis unmöglich ist, mit Extrovertierten ernsthaft über Introversion zu diskutieren. Oft genug habe ich es probiert – sie verstehen es nicht, VERSUCHEN erst gar nicht, es zu verstehen, unter Umständen tun sie so, als würden sie zuhören (ohne richtig zuzuhören), es interessiert sie nicht, es langweilt sie, sie wollen schnell wieder das Thema wechseln und haben meine hoffnungslosen Versuche, ihnen die Thematik näherzubringen, sofort wieder vergessen. Das habe ich alles mehrfach erlebt!

    Ich mache den Extrovertierten deswegen keine Vorwürfe. Die haben sich ihre extrovertierte Veranlagung genauso wenig ausgesucht, wie wir unsere introvertierte. Wir lieben analytischen, in die Tiefe gehenden Austausch und mögen keine Gespräche, die nur an der Oberfläche kratzen. Bei Extrovertierten ist das eben umgekehrt.

    Klar, jeder Introvertierte wünscht sich, dass das Verständnis endlich mal auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Denn die Extrovertierten kritisieren uns sehr wohl allein der Introversion wegen, was wir im umgekehrten Fall in der Regel nicht tun. Liegt wohl an unserer Fähigkeit zum Nachdenken, Hinterfragen, Analysieren, Reflektieren,…Eigenschaften, mit denen Extrovertierte weniger gesegnet sind.

    Nicht falsch verstehen: Ist nur ein Erklärungsversuch, keinesfalls eine Entschuldigung für die Art, mit der zahlreiche Extrovertierte mit uns umgehen. Wenn sie uns Vorwürfe machen, als seltsam betrachten, sogar als abnormal bezeichnen aufgrund einer angeborenen Veranlagung, so ist das durch nichts zu rechtfertigen!

    Ich betrachte die Wutrede an die Extrovertierten als durch und durch gelungen. Sie beinhaltet die wichtigsten Fakten und wird bestimmt dafür sorgen, dass sich viele Introvertierte besser fühlen. Aber dass sie bei der Zielgruppe ankommt, geschweige denn ein Umdenken unter den Extrovertierten auslösen wird, wage ich zu bezweifeln – mit einem wirklich großen LEIDER!

    Grüße,
    Alex

    • Diesen Samstag erscheint ein Beitrag, der sich genau damit befasst: Wie mache ich Extrovertierten verständlich, was Introversion ist? Ist etwas anschaulicher gestaltet und mit dem Ziel, eben doch den ein oder anderen Extro zu erreichen.

      Ich habe das große Glück, eine Handvoll extrovertierter Freunde zu haben, die mich akzeptieren und die auch froh sind, dass ich offen damit umgehe. Also ein klein wenig Hoffnung, denn es gibt sie, die Extros, die sich für uns und unsere Bedürfnisse interessieren.

      Leider kann ich aber nicht widersprechen, wenn es darum geht, dass diese die Ausnahmen und nicht die Regel sind.

      Liebe Grüße

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