Einst galt es als Ideal, heute wird man schief angeschaut: Schweigen spielt in unserer Gesellschaft eine eigenartige Rolle. Viele haben verlernt, die Stille zu genießen und wissen nicht einmal mehr, wie man eigentlich genüsslich schweigt.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die als schweigsam, still oder ruhig gelten und scheinbar kein Problem damit haben, einfach mal nichts zu sagen. Für Außenstehende stellt sich dann die Frage, was eigentlich in den Köpfen dieser Menschen vorgeht.
Heute versuchen wir mal, das herauszufinden. Sind ruhige Menschen gefährlich? Oder intelligenter? Sind sie vielleicht permanent kreativ oder produktiv? Natürlich können wir nicht alle in eine Kategorie stecken. Und für jedes Paradebeispiel gibt es einen Haufen Ausnahmen. Aber ich weiß, dass vor allem die Vielredner und Extrovertierten gerne mal unsicher sind, wie sie mit den Schweigsamen umgehen sollen.
Umgekehrt glauben viele schweigsame Personen, dass sie sich unbedingt ändern müssen. Sofern das nicht aus eigenem Antrieb geschieht, lautet die Antwort: Keine Sorge, dass du ruhiger bist, ist völlig okay. (Sorry für den Spoiler)
Worüber denken ruhige Menschen nach?
Leider ist die Antwort für die Mehrheit der Schweigsamen so unspektakulär wie logisch: Ruhige Menschen denken oftmals über genau die gleichen Dinge nach wie alle anderen.
Das Wetter, was es zu Essen geben wird, wie wohl die Klausur gelaufen ist, der Schwarm, die Ängste, …
Stille Menschen haben völlig normale Gedanken, denn sie haben normale Probleme, Hoffnungen und Träume. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen: Ruhige Menschen werden durch die Gesellschaft meist anders behandelt und haben daher spezielle Herausforderungen im Leben und sie nehmen durch ihre Stille die besagte Gesellschaft auch anders wahr. Dazu gleich mehr. Abgesehen von diesen spezifischen Problemen, die klar mit der ruhigeren Art zusammenhängen, sollten schweigsame Menschen dir ähnlicher sein, als du denkst.
Wenn du selbst schweigsam bist, weißt du hoffentlich bereits, dass das kein Defizit sein muss. Ob du etwas an deinem Rede- und Kommunikationsverhalten verändern musst, hängt ganz klar davon ab, ob dir etwas fehlt. Viele Menschen gelten einfach als die Ruhigeren in der Gruppe und sind damit völlig zufrieden. Oder sie öffnen sich nur für bestimmte Menschen. Der Rest der Gesellschaft kann sie gerne weiter als „zu ruhig“ oder „irgendwie eigenartig“ abstempeln.
Sind stille Menschen gefährlich?
Der Frage, ob stille, ruhige, schweigsame Menschen gefährlicher sind als andere, habe ich bereits einen eigenen Artikel gewidmet. Trotzdem kommt die Frage scheinbar immer wieder auf.
Ein Grund dafür ist, dass es Menschen verunsichert, wenn jemand nicht offen sagt, was er denkt. Zum anderen werden in Büchern, Filmen und Serien die schweigsamen Typen häufig als verrückt oder gefährlich dargestellt.
In Wahrheit sollte niemand davon ausgehen, dass jemand gefährlich ist, nur weil er weniger spricht. Auch laute Menschen können aggressiv sein. Menschen, die viel sprechen, können genauso gut Informationen zurückhalten. Manchmal sogar besser. Weil sie ständig sprechen, vergisst man ganz, dass sie vielleicht nicht ehrlich sind.
Willst Du mehr erfahren, geht es hier zum ausführlichen Artikel: Still und unberechenbar
Haben schweigsame Menschen bessere Gedanken?
Als introvertierter Mensch ist man versucht, zu behaupten, dass Schweigsamkeit auch zu qualitativ hochwertigeren Gedanken führt. Das kann auch tatsächlich der Fall sein, doch die folgenden Worte sind immer eine mögliche Variante. Nur weil man nicht viel sagt, heißt das noch lange nicht, dass man auch Vorteile im Denken hat.
Aber wer zuhört, beobachtet und sich Zeit für die Entwicklung von Gedanken nimmt, der kann auch die Qualität seiner Gedanken erhöhen. Denn solange wir reden, können wir nicht zuhören. Wenn wir nicht zuhören, können wir keine neuen Informationen aufnehmen. Wenn uns Informationen fehlen, verstehen wir eine Situation, ein Problem oder einen Zusammenhang schlechter.
Auch die Entwicklung neuer Ideen oder kreativer Welten wird natürlich gefördert, wenn wir uns Zeit für uns selbst und unsere Innenwelt nehmen. Es kann also gut sein, dass ein schweigsamer Mensch umgeben von unzähligen Personen, die reden und kommunizieren, gerade ein Abenteuer höchster Güte durchlebt oder sich wertvolle Gedanken zur Verbesserung des Lebens anderer macht.
Wer schweigt, gibt seinem Gehirn mehr Zeit, kreativ zu sein. Somit haben schweigsame Menschen ein großes Potential und sollten auf keinen Fall bemitleidet oder zum Reden gezwungen werden.
Sollte man Menschen zum Reden drängen?
Du solltest niemals versuchen, mit aller Macht einen Menschen zum Reden zu bringen, der eigentlich lieber schweigt. Ruhige Menschen überlegen sich ganz genau, welche Gedanken sie äußern und welche nicht.
Das führt dazu, dass hinter nahezu jedem Wort eine Entscheidung steckt. Diese solltest Du ihnen nicht abnehmen. Niemand sollte verpflichtet sein, mehr zu sagen, als er sagen möchte. Unsere Gesellschaft hat einen Überschuss an Worten und Aussagen. Viele sind leer, inhaltslos, unnötig. Da sollte man das ruhige Gegengewicht nicht noch provozieren.
Wer jedoch ins Gespräch kommen möchte, der will einem schweigsamen Menschen ja nicht schaden. Der Wunsch, dass jemand mehr spricht, ist also nicht verwerflich. Aber es gibt richtige und falsche Wege, jemanden zum Reden zu bringen.
Falsch: „Sag doch auch mal was.“ „Erzähl doch mal.“ „Was gibt es Neues?“
Richtig: „Wie hat sich das Projekt entwickelt, an dem du arbeitest?“ „Was sind deine Gedanken zum Thema…?“ „Was hast du zuletzt auf Netflix geguckt?“
Ruhige, introvertierte, stille Menschen finden es oftmals anstrengend bis stressig, wenn sie einfach drauflosreden sollen. Gib ihnen daher konkrete Anhaltspunkte, in welche Richtung das Gespräch gehen kann und soll. Pluspunkte gibt es selbstverständlich dafür, wenn Du ihnen auch wirklich zuhörst und genug über sie weißt, um nachzufragen, wenn sie etwas über sich erzählen.
Last but not least, vermeide bitte den größten Fehler, mit dem sich die Ruhigen dieser Welt wieder und wieder und wieder (und wieder) konfrontiert sehen: Übergehe einen schweigsamen Menschen nicht und rede nicht über seinen Kopf hinweg.
Denn es gibt Menschen, die sehr bewusst ruhig sind und weniger sagen, doch es gibt auch diejenigen, die einfach das Gefühl haben, sie wären sowieso nicht wichtig, weil sie ständig unterbrochen oder belächelt werden.
Die moderne westliche Gesellschaft schätzt es, wenn man etwas sagt – etwas Falsches zu sagen, ist besser, als gar nichts zu sagen. Dass wir deshalb Dummschwätzer und Selbstdarsteller fördern, ist ein nerviger Nebeneffekt.
Mache bitte nicht denselben Fehler, indem Du unnötig sprichst, wenn Du mit einem ruhigen Menschen unterwegs bist. Schweigsame Menschen können Stille genießen, sie brauchen aber auch meist etwas Zeit und Vertrauen, um Dich einen Blick in ihre Gedanken werfen zu lassen. Mache das nicht kaputt, indem Du sie nicht ernst nimmst.
Ruhige Menschen können einen Knall haben
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass stille Menschen auch gerne mal abgedrehte und absurde Gedanken haben. Ja, es gibt diejenigen, die normale Gedanken haben. Es gibt diejenigen, die von der Gesellschaft nicht gehört werden.
Es gibt aber auch diejenigen, die sich ganz bewusst dafür entscheiden, ihre verrücktesten Gedanken zurückzuhalten, um niemanden zu verwirren. Der ruhige Typ im Café? Kämpft gerade in seinem Kopf gegen einen rosaroten Drachen mit Tattoos. Das stille Mädchen im Klassenraum? Fragt sich gerade, ob Pinguine eigentlich Knie haben. Der stumme Greis auf der Parkbank? Im Falle einer nuklearen Explosion gäbe es einen idealen Teil des Explosionsradius in dem Tiefkühlpizzen wahrscheinlich perfekt zubereitet wären…
Wer nicht viel sagt, hat mehr Zeit für sinnvolle Gedanken. Die sinnfreien oder abgedrehten Gedanken haben davon aber Wind bekommen und wollen auch mitspielen.
(Hier zwei halbwegs witziges Video. Daran sieht man sehr gut: Nicht alle Gedanken sind wertvoll, nicht jeder Mensch, der gerade nichts sagt, entwirft wundervolle Welten oder erfindet das Rad neu. Manchmal ist einfach Chaos angesagt.)
Sprüche zum Thema Schweigen
In vielen Religionen, in verschiedenen Epochen und in einigen Gesellschaften galt und gilt Schweigsamkeit als Tugend. Daher verwundert es nicht, dass auch über das Schweigen gesprochen wird. Die folgenden Sprüche stammen aus verschiedenen Jahrhunderten und Ländern und doch bleiben sie aktuell.
„Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen.“
– Pythagoras von Samos
„Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen und fünfzig, um Schweigen zu lernen.“
– Ernest Hemingway
„Eine Gelegenheit, den Mund zu halten, sollte man nie vorübergehen lassen.“
– Curt Goetz/Kurt Walter Götz
„Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“
– Marie von Ebner-Eschenbach
„Dumme Gedanken hat jeder, aber der Weise verschweigt sie.“
– Wilhelm Busch
Bist du ein schweigsamer Mensch? Dann hast du bestimmt eine Meinung zu diesem Beitrag. Bitte nutze doch die heruntergesetzte Hemmschwelle der Online-Kommunikation, um deine Gedanken in den Kommentaren mit der Welt zu teilen. Gerne darfst du auch davon berichten, warum du eher schweigsam bist und ob dir beim Lesen etwas gefehlt hat.
Solltest du dich selbst nicht als schweigsam bezeichnen, sondern eher als distanziert, dann gibt es einen weiteren Text, der dich interessieren könnte: Distanzierte Menschen verstehen. Ohnehin gibt es einige Artikel, die diesem ähnlich sind. Frag gerne nach, wenn du einen speziellen Text suchst. Vielleicht wurde er bisher auch einfach noch nicht geschrieben? Das können wir ändern.
Hier ein kleiner Teaser zu den distanzierten Menschen: „Der beste Tipp für den Umgang mit distanzierten Menschen im gewöhnlichen Alltag ist, sie einfach in Ruhe zu lassen. Wenn keine weitere Verbindung zu der Person besteht – keine Freundschaft, keine romantische Beziehung, kein enges Arbeitsverhältnis –, dann ist es einfach nicht deine Aufgabe, diese Person dazu zu bewegen, sich zu öffnen.“