Schüchterne Extrovertierte und selbstbewusste Introvertierte

Schüchtern und selbstbewusst, introvertiert und extrovertiert: Dies ist ein Beitrag über ein Thema, das immer wieder in der einen oder anderen Form aufkommt, wenn es um die Frage geht, woran man denn Introvertierte und Extrovertierte eigentlich unterscheiden könnte. Denn wenn es keine perfekte Definition gibt, neigen manche Menschen dazu, einfach gar nicht an die Existenz eines Konzeptes zu glauben.

Das passiert zum Beispiel immer dann, wenn jemand selbstbewusst ist und behauptet, er sei gleichzeitig introvertiert. Unmöglich! So hat uns die Gesellschaft das nicht beigebracht! Aber sehr beliebt ist auch folgende Situation: Jemand hält sich für introvertiert, passt aber irgendwie nur in den nervösen, menschenmeidenden Teil der Beschreibungen, zu den Memes und Anekdoten, aber weniger zu den anderen Faktoren … Was steckt dahinter? Meist liegt ein scheinbarer Widerspruch vor, bei dem Introversion und Selbstbewusstsein oder Extraversion (auch Extroversion) und Schüchternheit aufeinandertreffen.

Schüchternheit und Selbstbewusstsein bei Introvertierten

Introvertierte Menschen haben ein höheres Ruhebedürfnis, eine rege innere Welt und sie verlieren in sozialen Situationen Energie. Das führt bei einigen Introvertierten dazu, dass sie sich einsam fühlen – anderen passiert das nicht. Wer sich seiner Grenzen nicht bewusst ist, zwingt sich vielleicht zu Aktivitäten, brennt aus, entwickelt psychische Probleme – vielleicht aber auch nicht. Schon jetzt wird klar, dass eine einwandfreie Beschreibung des introvertierten Prototyps unmöglich ist.

Introversion und Schüchternheit werden im allgemeinen Sprachgebrauch gerne gleichgesetzt. Hier allerdings die knallharte Wahrheit: Schüchternheit ist ein veränderbarer Zustand, Introversion nicht. Das haben verschiedene Studien bereits gezeigt. Persönlichkeit ist zwar gestaltbar, aber die Grundbedürfnisse, die bleiben.

Schüchternheit entsteht durch Trauma, erwartete Ablehnung oder auch tatsächliche Ablehnung. Sich zu zeigen oder etwas zu sagen, fühlt sich an wie Stress, also lässt man es lieber. Verschiedene Dinge können gegen diese negativen Gefühle helfen – Therapie, Sport oder ein Lebenswandel zum Beispiel.

Genug Introvertierte auf diesem Planeten sind nicht schüchtern, sondern eher selbstbewusst. Sie sind sich ihrer Stärken bewusst, haben Freunde und Familie und performen gut in ihrem Job. Wenn ihnen jemand eine Frage stellt, werden sie (normalerweise) nicht nervös, Vorträge meistern sie und in Gruppen sagen sie etwas, wenn ihnen danach ist. Da sie sich somit auf den ersten Blick nicht von selbstbewussten Ambivertierten oder Extrovertierten unterscheiden, rückt ihre introvertierte Art (scheinbar) in den Hintergrund.

selbstbewusst introvertiert

Schüchternheit und Selbstbewusstsein bei Extrovertierten

Gerade unter Introvertierten kommt ein Denkfehler zu tragen: Wer von Natur aus sozialer ist, der muss doch automatisch auch selbstbewusster sein, oder? Falsch. Genau wie die ruhige Art von Introvertierten durchaus ein guter Nährboden für Schüchternheit oder Angst sein kann (aber nicht muss!), ist ein Drang nach sozialen Kontakten förderlich, um sich in sozialen Situationen wohlzufühlen. Förderlich ist das Stichwort.

Extrovertierte Menschen können mit Ablehnung zu kämpfen haben. Das äußert sich dann auf zwei verschiedene Arten: sie überspielen es oder sie ziehen sich zurück. Gerade das Überspielen von Schüchternheit oder Unsicherheit ist typisch für extrovertierte Menschen, die (noch) nicht gelernt haben, mit ihren Problemen umzugehen. Sie wirken dann aber nicht schüchtern, sondern meist unbeholfen, albern oder sogar aggressiv, weil sie übertreiben. Also bekommen sie negative Reaktionen ihrer Umwelt nur noch mehr zu spüren und das hilft ihnen beim besten Willen überhaupt nicht. Ein echter Teufelskreis entsteht, bei dem eine Person nicht weiß, was sie machen soll und oftmals an falscher Stelle nach Antworten sucht.

Der Rückzug von Extrovertierten führt wiederum dazu, dass sie glauben, sie seien introvertiert. Sie finden sich in Memes und Beiträgen zu sozialen Ängsten, Unbeholfenheit oder sogar Menschenhass wieder – also denken sie, ihr Bedürfnis nach Rückzug wäre Introversion. In Wahrheit fühlen sie sich dabei aber stets schlecht, weil sie wider ihre Natur leben. Sie wären gerne sozialer und selbstbewusster, wissen aber nicht wie. Dann geben sie sich ihrem Schicksal hin und lernen nie, ein authentisches Leben zu führen. Wir sprechen viel darüber, wie wir introvertierten Menschen helfen können, denn sie müssen oftmals mit Gegenwind kämpfen. Deshalb dürfen wir aber nicht so tun, als wären Extrovertierte nicht auch manchmal auf der Suche nach Hilfe.

Schüchterne Extrovertierte und selbstbewusste Introvertierte

Was sich jeder bewusstmachen sollte, ist Folgendes: Wenn man einen schüchternen Extrovertierten und einen selbstbewussten Introvertierten in dieselbe Situation – zum Beispiel eine Weihnachtsfeier – steckt, wird man sie im Vergleich falsch einschätzen. Von außen wirkt der selbstbewusste Introvertierte extrovertierter und der schüchterne Extrovertierte wirkt introvertierter. Jeder bekommt seinen Stempel in Sekundenschnelle aufgedrückt.

Im Gespräch (oder mit der Zeit) wird sich das aufklären lassen. Denn der Introvertierte schlägt sich zwar gut, macht sogar Small Talk und hat etwas vom Abend, doch danach ist er ausgelaugt. In seinem Kopf reflektiert er während des Abends viel und zu Hause fühlt er sich dann auch sehr wohl. Das Selbstbewusstsein ist zwar echt, aber es verschleiert (oftmals) die Introversion. Für die meisten flüchtigen Bekanntschaften würde der „Intro“ als „Extro“ gelten, obwohl das nicht annähernd stimmt.

Der schüchterne Extrovertierte spricht den Abend über nicht viel, weil er Angst hat, etwas Falsches zu sagen oder schlecht behandelt zu werden. Doch das Bedürfnis, sich besser darzustellen und mehr Kontakte zu knüpfen, bleibt stets bestehen. Wenn er alleine zu Hause ist, ist er zwar erleichtert, dass er weniger Druck verspürt, aber er denkt daran, was er nächstes Mal besser machen kann, sehnt sich nach Veränderung und fühlt sich (wahrscheinlich) einsam. Diejenigen, die ihn an dem Abend gesehen haben, werden ihn im Zweifel als sehr introvertiert bezeichnen. Das ist belastend.

extrovertierte introvertierte erkennen

Introvertierte und Extrovertierte von außen erkennen

Dieser Beitrag soll noch einmal zeigen, dass die von Carl Jung entworfenen Konzepte von Introversion und Extraversion keine Allheilmittel sind. Sich einfache Antworten zu erhoffen, wird auf Dauer enttäuschen. Denn ein Mensch wird durch seine Erfahrungen, Hoffnungen, Wünsche, Träume, Familie, Freunde und noch viel, viel mehr geprägt. Daraus entstehen selbstbewusste oder schüchterne Menschen. Laute Menschen oder leise Menschen. Clevere Menschen oder dämliche Menschen. Nette Menschen oder böse Menschen. Das dürfte auch ein Grund sein, weshalb sich viele überhaupt nicht einordnen wollen und die Begriffe meiden oder es einfach bei „ambivertiert“ belassen.

Daher möchte ich Sätze wie „Du kannst nicht introvertiert sein, du gehst ja gerne auf Partys“ oder „Extrovertierte sind immer laut“ nicht lesen. Informieren ist gut, urteilen nicht. Manchmal fällt es schwer, da die Grenze zu finden. Für Memes sind Übertreibungen zum Zwecke des Witzes sogar notwendig. Verzwickte Situation, ich weiß.

Ich persönlich verweise immer auf Forschung und weitere Informationen, wenn ich in Foren oder Gruppen lese, dass jemand Angst vor Menschen hat. Das ist kein Merkmal von Introversion! Daran kann man etwas ändern. Und manchmal versteckt sich hinter einem schüchternen oder ängstlichen Menschen ein extrovertierter (oder immerhin ambivertierter) Mensch.

Weitere Überlegungen zu diesem Thema

Ich empfehle dir im Folgenden noch ein paar weitere Texte, falls dich das Thema jetzt gepackt hat. Natürlich kannst du auch stets die Kommentarfunktion nutzen, um deine eigene Meinung mit anderen zu teilen. Diskussionen sind willkommen und manchmal schreibst du etwas, was anderen hilft. Denke dabei an das Prinzip aus Schulzeiten: „Zum Glück hat das einer gefragt, ich habe es auch nicht verstanden und wollte es nur nicht zugeben.“

Fälschlicherweise als „typisch introvertiert“ bezeichnet:

  • Schüchternheit
  • Angst vor Reden
  • Fehlender Augenkontakt
  • Menschenhass
  • Nicht durchsetzungsfähig
  • Langweilige Persönlichkeit

Mehr dazu aus „Introvertiert werden (Humor)“: „Neue Leute kennenzulernen, ist manchmal notwendig, doch du solltest lieber lernen, dich hinter Litfaßsäulen und Büschen zu verstecken, um einem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Du glaubst, das funktioniert nicht? Dann achte doch mal im Alltag genauer darauf, wie viele Menschen schon hinter Objekten kauern. Die Wissenschaft bestätigt, dass 24 Stunden am Tag allein zu Hause sein viel effektiver ist, als ständig unter Menschen zu gehen. Gönn dir jetzt also meine 5 Top Tipps, um introvertiert zu werden.“

Fälschlicherweise als „typisch extrovertiert“ bezeichnet:

  • Selbstbewusst
  • Laut
  • Ständig unterwegs
  • Arrogant
  • Beliebte Persönlichkeit

Besonders interessant ist die Kombination aus Hochsensibilität und Extraversion. Hierbei hat jemand sehr schlechte Filter für Reize, ist aber trotzdem auf der Suche nach sozialem Anschluss. Es ist zu vermuten, dass diese Kombination an Eigenschaften Nährboden für schüchterne Extrovertierte bildet.

Aus „Hochsensible Erschöpfung„:

„Die Besonderheit für hochsensible Personen besteht darin, dass es kein einzelnes Ereignis geben muss, das die Erschöpfung auslöst. Schon der Alltag kann belastend sein. Das fühlt sich dann meist an, als würden alle Menschen mühelos durch das Leben gleiten, während man selbst ständig zu kämpfen hat.

Arbeit, Familie, Freunde und Hobbys unter einen Hut zu bekommen, scheint völlig unmöglich zu sein. In einer vollbesetzten Bahn einem Gespräch zu folgen, ist die reine Hölle. Laute Menschen können auf keinen Fall ignoriert werden.

HSPs verlieren Energie über den Tag hinweg in Situationen, die anderen Menschen oftmals nicht viel anhaben können. Somit haben sie auch viel mit Introvertierten gemeinsam, die speziell durch soziale Kontakte schnell erschöpft sind. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde man durch eine dicke Soße oder einen zähflüssigen Matsch waten, während alle anderen am Ufer entlanglaufen. Mit jeder weiteren Minute wird es schwerer, die einfachsten Dinge zu tun. Die gute Nachricht ist: Das muss nicht sein!“

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Letztlich waren das nun 1500 Wörter, um zu sagen: Introversion (bzw. Extraversion) ist ein sehr wichtiger Baustein einer Persönlichkeit, aber nicht der einzige. Also sollten wir genauer hinschauen und hinhören, damit Menschen nicht falsche Informationen bekommen oder sich in der Box eingeengt fühlen, in die wir sie gesteckt haben.

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