Introvertierte in den Medien: eine totale Katastrophe?

Als jemand, der selbst regelmäßig Artikel schreibt, die auf Blogs oder Magazinen erscheinen, ist es geradezu unerträglich zu beobachten, wie einige Autorinnen und Autoren ständig halbgare Texte verfassen, die kaum Mehrwert bieten oder sogar negativen Einfluss auf die Leserinnen und Leser haben können.

Besonders fällt es auf, wenn es um Introversion geht. Irgendwo pitcht jemand die Idee, doch mal was darüber zu schreiben, wie es ist, wenn man nicht extrovertiert und laut ist und trotzdem den Alltag in einer lauten und extrovertiert geprägten Welt bewältigen muss. Alle sagen: Jup, mach mal! Dann wird losgeschrieben und zack (!) stecken Angststörungen, Schüchternheit, mentale Probleme und Menschenhass angeblich alle plötzlich im Wort Introversion.

Es gibt viele gute Artikel und Berichte über Introvertierte

Bevor es darum geht, mal so richtig Dampf abzulassen und einen Appell an die Texterinnen und Texter dieser Welt zu senden, muss erst einmal festgehalten werden, dass es in den letzten Jahren einen spürbaren Wandel gab. Aufklärung über Introversion schreitet brav voran, weshalb viele, viele Texte nun früh eine Definition einbringen.

Nicht jedem Text gelingt es, dann wirklich bis zum Ende Schüchternheit, Angst und Introversion zu trennen. Doch immerhin wird jedem Leser mindestens einmal verdeutlicht: Ach übrigens, Introvertiertheit ist ein fester Bestandteil der Persönlichkeit und nichts Schlechtes.

Die positiven Beispiele aufzuzeigen, wäre vielleicht auch mal einen eigenen Eintrag wert. Aber wie das so ist, sich über etwas auszulassen, was stört, ist irgendwie leichter. Dieser Beitrag wartet auch schon seit Jahren auf einer Themenliste. Dass er ausgerechnet jetzt erscheint, liegt daran, dass mir gerade erst ein positives Beispiel begegnet ist: Ich wurde für ein längeres Gespräch über Introversion im Alltag angefragt, bei dem eben nicht einfach alles in einen Topf geworfen wurde. So sollte es sein.

texte über introvertierte

Falschaussagen über Introvertierte

Bevor es ein paar konkrete Beispiele für bedenkliche Überschriften gibt, sollen die typischen Falschaussagen mal aufgezeigt werden. Denn diese findet man in Social Media Posts, in Blogartikeln und eben auch in Printmedien und sie machen dabei all denjenigen das Leben schwerer, die aktiv an der Aufklärung arbeiten.

Typische Halb- und Unwahrheiten, die Schaden anrichten:

  • Introversion und Schüchternheit werden gleichgesetzt.
  • Eine ängstliche Person wird (fast) ausschließlich über das Wort „introvertiert“ beschrieben.
  • Es wird behauptet, Introvertierte können in Gesellschaft nicht sprechen.
  • Introvertierten wird nachgesagt, keine Führungspositionen einnehmen zu wollen.
  • Der Text suggeriert, es gäbe den einen Introvertierten (anstatt verschiedenster Ausprägungen).

Am häufigsten ist dabei die Zusammenführung von Schüchternheit und Introversion zu beobachten. Das Problem dabei ist, dass damit das Klischee befeuert wird, Introversion wäre ein Makel. Aber nicht nur das, denn da Schüchternheit behandelt werden kann, glauben viele Menschen, auch Introversion wäre etwas, was man einfach ablegt. Das ist falsch. Introversion gewöhnt man sich nicht ab und sie ist kein Defizit.

In einigen Situationen ist eine introvertierte Art nachteilig – dann muss man Wege finden, damit umzugehen. Aber Newsflash: Auch eine extrovertierte Persönlichkeit kann in vielen Situationen nicht unbedingt scheinen. Jeder Mensch ist mit Stärken und Schwächen ausgestattet, doch diese als per se gut oder schlecht beziehungsweise besser oder schlechter zu beschreiben, geht an der Lebensrealität weit vorbei.

Introvertierte sind nicht alle gleich

Hinzu kommt, dass es den einen Introvertierten ja gar nicht gibt. Ein gutes Beispiel (wenn auch kein perfektes) sind die Persönlichkeitsausprägungen nach Myers-Briggs. Wer sich diese einmal genauer anschaut, der erkennt, dass einige Introvertierte unglaublich einfühlsam sind und die Außenwelt und ihr Innenleben ständig in kreativen Zusammenhängen begreifen. Gleichzeitig gibt es introvertierte Persönlichkeiten, die sich durch extreme Faktenliebe und emotionale Distanz auszeichnen.

Der Mathematikprofessor, der Umarmungen und emotionale Nähe nur bei einem Partner oder engen Freunden zulässt, ist introvertiert. Die kuschelbedürftige Kindergärtnerin, die jede noch so kleine Veränderung in der Ausstrahlung eines Kindes sofort spürt, ist introvertiert. Der Firmenchef, der eine flammende Rede hält, seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornt und danach erst einmal seine Kaffeepause ungestört im Büro braucht, ist introvertiert.

Zweifelhafte Beispiele und Überschriften zum Thema Introversion

„Hab dich mal nicht so“ und „Ich sehe das Problem nicht“ sind zwei der beliebtesten Reaktionen auf einen kritischen Text wie diesen hier. Gerade wenn es um Detailfragen wie die Formulierung der Überschrift geht, dann soll man sich mal nicht so pedantisch anstellen.

Solange Introvertierte krampfhaft versuchen, sich ihrer Natur zu widersetzen, und die Gesellschaft weiterhin geradezu kultartig extrovertierte Eigenschaften auf einen Podest hebt, ist es absolut angebracht, auch auf scheinbar unwichtige Details zu achten. Denn jedes Mal, wenn jemand in einer Überschrift für einen Artikel Introversion und Schüchternheit zusammenwirft, wird ein Schritt zurück gemacht, wenn es um Aufklärung geht.

Hier mal ein paar Negativbeispiele (Galerie):

Schüchternheit ist nicht das Ende der Welt. Jemand mit einer sozialen Phobie kann ein wundervoller Mensch sein. Vor Menschenmengen nicht gerne Vorträge zu halten, ist manchmal nervig, beeinflusst aber nicht unbedingt den Alltag der meisten Menschen. Doch was haben diese Dinge gemeinsam? Sie können mit Therapie, Übung oder auch einfach entsprechendem Wissen behandelt werden, wenn man es denn möchte.

Schüchterne Menschen können selbstsicherer werden. Soziale Phobien können mit Therapie und Medikamenten behandelt werden. Vor Gruppen zu sprechen, ist meist durch Übung schnell leichter zu meistern. Introversion kann nicht abgelegt werden, sie wird nicht behandelt und stellt auch kein Defizit dar, solange sich Menschen ihrer Bedürfnisse bewusst sind.

Menschen, die sagen, sie wollen weniger introvertiert sein, meinen damit in 99 Prozent der Fälle Folgendes. Ich will:

  • …auf andere zugehen können.
  • …besser kommunizieren.
  • …mehr Freunde haben.
  • …weniger Außenseiter sein.
  • …auch mal laut werden.
  • …mich weniger einsam fühlen.
  • …nicht mehr schüchtern sein.

Das ist alles erlernbar. Dass man aber eine Präferenz für Ruhe, tiefgründige Gespräche und Zeit für sich hat, wird sich nicht ändern, Introversion wird nicht verschwinden – und das muss sie ja auch gar nicht. Doch so lange veränderbare Teile der Persönlichkeit mit der relativ beständigen Ausprägung für Introversion oder Extraversion in einen Topf geworfen werden, werden Menschen auch weiterhin glauben, dass sie introvertiert sind, wäre falsch.

Gegenbewegungen und positive Beispiele

Mit sich selbst im Krieg zu sein, weil man seine introvertierten Bedürfnisse für eine Schwäche hält, hat teilweise dramatische Folgen. Depression, Angst, Burnout, Suchtverhalten – all diese Dinge werden dadurch bedingt, dass sich jemand nicht akzeptiert.

Umso wichtiger ist es, dass fleißig aufgeklärt wird. Das geschieht auf zwei Arten. Zum einen müssen Medienschaffende (dazu zählen auch Blogger, Influencer, YouTuber) lernen, die Unterscheidung von Introversion zu anderen Merkmalen vorzunehmen und auch konsequent durchzuziehen. Gleichzeitig müssen diejenigen, die es besser wissen, den Mund aufmachen, wenn sie einen Fehler erkennen.

Kommentare zu einem Artikel, der am Thema vorbeigeschossen ist:

Die Folge dessen ist natürlich auch, dass Menschen im Alltag lernen, diese Unterscheidungen vorzunehmen. Sowohl bei sich selbst, als auch bei ihren Mitmenschen. Das kann dazu führen, dass man zum Beispiel nicht darüber meckert, dass jemand nicht zu einer bestimmten Veranstaltung (zum Beispiel einer Weihnachtsfeier) geht. Häufig glaubt man, das wäre eine Ablehnung oder sogar Arroganz. In Wahrheit ist dies oft keine ideale Umgebung für Introvertierte, weshalb sie lieber etwas anderes machen. Wer dies weiß, macht einen Alternativvorschlag – zum Beispiel wird sich in der darauffolgenden Woche auf einen Kaffee getroffen.

Je mehr sich das Wissen um die unterschiedlichen Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen in der Gesellschaft verbreitet, umso seltener wird jemand für etwas verurteilt, ausgelacht oder gar ausgegrenzt, das ganz natürlich ist. Jeder, der Inhalte erstellt, die für andere verfügbar sind, hat somit auch seinen Teil dazu beizutragen, dass sich die Gesellschaft in eine positive Richtung entwickelt.

Übrigens: Häufig sind es gar nicht die Extrovertierten, die Fehlinformationen verbreiten. Das gehört zwar dazu, aber gerade in Textform sind es sogar oftmals introvertierte Menschen, die ihre persönlichen Probleme (z.B. mit öffentlichen Reden oder auch Angststörungen) einfach unreflektiert mit Introversion gleichsetzen.

Diese Dinge sollte jeder über Introversion wissen

Wer sich bereits mit Introvertiertheit befasst hat, der kann diesen kleinen Einschub überspringen. Vor den abschließenden Worten sollte allerdings einmal aktiv mitgeholfen werden, dass Menschen sich besser informieren. Deshalb wird an dieser Stelle auf weitere Artikel verwiesen, die helfen können.

Grundlegende Informationen über Introvertierte:

Das ist nur eine Auswahl, doch wer diese Fragen beantworten kann, der würde auch sofort bemerken, wenn er über einen Text, ein Video oder einen Podcast stolpert, in dem Introversion eben nicht ganz richtig oder sogar komplett falsch verstanden wird.

introversion medien

Introvertierte in den Medien: Wie geht es weiter?

Wie bereits eingangs erwähnt wurde, ist der Trend ganz klar positiv. Es gibt immer mehr gute Informationsquellen für Introvertierte online und auch im Alltag scheinen sehr viele Menschen endlich ein besseres Verständnis zu entwickeln. Das führt mit der Zeit logischerweise auch dazu, dass es schwerer wird, oberflächliche oder gar fehlerhafte Texte, Bilder oder Videos zu schaffen, ohne dabei auf Kritik zu stoßen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass täglich Introvertierte in Gruppen, Foren oder im echten Leben darüber berichten, dass sie noch immer nicht akzeptiert werden. Und solange das der Fall ist, müssen einige von uns nun mal Lärm machen – auch wenn das für die meisten von uns vielleicht nicht unbedingt die erste Wahl bei der Kommunikation ist.

1 Kommentar

  1. Huhu Jennifer,

    was für ein toller Artikel! Vielen lieben Dank. Solch ein Text war mehr als überfällig.

    Ich bin selbst introvertiert (und hochsensibel) und es bringt mich auf die Palme, wenn Introversion ständig mit Schüchternheit gleichgesetzt wird oder ich aufgefordert werde, mich zu ändern und „lauter“ zu werden. Introversion ist nichts, was man auf Knopfdruck ändern kann oder sollte. Und ich möchte mich auch gar nicht ändern. Wieso sollte ich eine Rolle spielen, anstatt ich selbst zu sein? Das würde man von einer extravertierten Person doch auch nie verlangen.

    Ich habe deshalb vor einigen Monaten ebenfalls einen Blog über die Themen Introversion und Hochsensibilität gestartet. Genau wie du, möchte ich für stille und sensible Menschen eine Lanze brechen.

    Werde mich mal noch ein bisschen durch deine Beiträge klicken.

    Liebe Grüße
    Mim

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