Selbstverständlich ist das Leben als Introvertierter nicht einfach. Ständig hören wir uns an, dass wir komisch seien oder mit uns etwas nicht stimmen würde. Extrovertierte reden über uns hinweg oder hören erst gar nicht zu.
Doch, um Himmels Willen, können wir das analysieren anstatt permanent zu jammern!? Wer sich eine Weile mit introvertierten Menschen beschäftigt, stößt wieder und wieder auf Sätze wie die folgenden:
- Introvertierte haben doch überhaupt keine Chance
- Introvertierte werden unterschätzt
- Introvertierte können eh nichts ausrichten
- Introvertiert zu sein, ist total doof
Schluss damit. Bevor tatsächlich eine Abrechnung mit den Extrovertierten und ihren nervigsten Eigenschaften erscheint (UPDATE: Extrovertierte Menschen nerven), muss geklärt werden, wie sehr auch introvertierte Menschen nerven können. Fast so, als könnten alle Menschen nerven, unabhängig von ihren Startbedingungen im Leben. Verrückt.
Ich bin zu schüchtern und zu ruhig
Gleich zum Einstieg muss eines der größten Vorurteile geklärt werden, das zu viel Wehmut und Jammerei führt: Introversion macht niemanden schüchtern oder ängstlich. Immer wieder setzen Menschen – sowohl introvertierte als auch extrovertierte – Introvertiertheit mit Dingen wie Schüchternheit oder Sozialphobien gleich.
Das ist falsch. Introvertiert zu sein, bedeutet grundsätzlich nur, eine nach innen gerichtete Wahrnehmung zu haben. Daraus folgt, dass wir Introvertierten Energie tanken, wenn wir alleine sind oder in ruhigen Umgebungen. Im Umkehrschluss verlieren wir sie, wenn wir lange soziale Interaktionen erfahren.
Das bedingt natürlich, dass viele Introvertierte auch Sozialphobien oder Schüchternheit entwickelt, doch es bleibt dabei: Du wirst introvertiert geboren und wirst das niemals (signifikant) ändern können. Schüchternheit und soziale Ängste sind hingegen behandelbar.
Also ist es nun offiziell verboten, Introversion als Ausrede zu benutzen, okay? Denn es ist eben genau das: eine Ausrede.
Mehr dazu:
Der introvertierte Denkfehler: Warum du nicht extrovertiert werden kannst.
Ich bin halt so und kann auch nichts ändern
Das ist die perfekte Überleitung zu Punkt zwei: einfach aufgeben und tottern. Es gibt auf diesem Blog dutzende Beiträge, die bestätigen, dass Introversion Nachteile in der Schule, auf Arbeit oder im Alltag nach sich ziehen kann.
Aber das ist doch kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen! Wir haben Nachteile, wir werden aber nicht diskriminiert oder bekämpft. Das ist ein verdammt großer Unterschied. Wir haben es vollständig selbst in der Hand, wie wir damit umgehen.
Sand in den Kopf stecken und warten, bis das dicke Ende endlich vor der Tür steht, hat nichts mit Introvertiertheit zu tun. Das ist eine persönliche Entscheidung. Die zwar jeder treffen kann, immerhin ist das ein freies Land, aber dann erwartet nicht, dass ihr Mitleid bekommt.
Den Job wechseln, Freunde loswerden, aus einer Beziehung ausbrechen, umziehen, an sich arbeiten … bitte, alles Dinge, die wir selbst in der Hand haben. Wenn etwas in unseren Leben nicht stimmt, müssen wir es schon selber ändern. Einfach alles darauf zu schieben, dass wir nicht die Energie haben, um täglich der Spaßvogel oder der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, ist feige und überhaupt nicht zielführend.
Haben Introvertierte überhaupt eine Chance?
Natürlich haben introvertierte Menschen eine Chance. Nicht nur eine, sondern hunderte. Wir können alles, was Extrovertierte auch können. Die Frage ist, ob wir die extrovertierten Mitmenschen einfach kopieren wollen oder ob wir unser eigenes Ding machen wollen.
Wenn jemand rumjammert, dass er (oder sie) als Introvertierter doch sowieso keine Chance hätte, dann ist das einfach nicht wahr. Wir können Ärzte, Feuerwehrmenschen, Pokémon-Trainer, Gärtner, Milliardäre und Schauspieler werden. Der Beweis: 15 introvertierte Promis.
Es kann nur schwieriger sein. Denn viele soziale Interaktionen – romantische Beziehungen, Freundschaften, Jobs – sind leichter zu navigieren, wenn man ein natürliches Charisma und starkes Interesse an Sozialkontakten hat.
Aber nur weil etwas schwieriger ist, heißt das doch nicht, dass man überhaupt keine Chance hätte. Extrovertierte Menschen müssen auch neue Fähigkeiten lernen, um sich durchzusetzen. Dass ihnen die sozialen Hürden weniger klein erscheinen, kann gleichzeitig bedeuten, dass ihnen das konzentrierte Arbeiten oder Aufbauen langfristiger Beziehungen schwerfällt. Plötzlich sind Introvertierte im Vorteil!
Häufig glauben wir aber, wir müssten genau so sein wie die Extrovertierten. Müssen wir nicht. Denn natürlich fällt uns alles schwerer, wenn wir wider unsere Natur versuchen, genau das zu kopieren, was Menschen machen, die viel mehr Energie für Sozialkontakte haben. Der eigene Dreh muss her. Auch als ruhiger Mensch kann man erfolgreich sein – auf jeder Ebene des Lebens. Man muss sich aber die Mühe machen, den eigenen Weg zu gehen und nicht nur hinter den Extros herzudackeln.
Introvertierte nerven genauso wie Extrovertierte
Es sollte nun hoffentlich klar sein, dass Jammern nichts bringt. Kritik soll selbstverständlich erlaubt sein – zur Hölle, das ist ein Kernanliegen dieses Blogs! Aber Hinterfragen und Analysieren bringen Wandel, nicht etwa Aufgeben und Rummotzen.
Die Motivation für diesen Beitrag war es, die vielen Beiträge und Kommentare aufzuarbeiten, die ich täglich in Foren, Gruppen oder Blogs sehe, in denen die Schuld vollständig abgegeben wird. Das ärgert mich, denn andere Menschen sehen diese Dinge und verlieren möglicherweise die Hoffnung, dass sie etwas in ihrem Leben ändern könnten.
Was Unsinn ist. Wir können an unseren Schwächen (Achtung, Introversion ist damit nicht gemeint!) arbeiten und gleichzeitig unsere Stärken weiter ausbauen. Es gibt unzählige Beispiele, bei denen Introvertierte ihre Stärken voll ausspielen und erfolgreich sind. Aber von den introvertierten Menschen in glücklichen Beziehungen hört man selbstverständlich seltener als von denen, die Probleme haben.
Es ist alles eine Frage der Perspektive und des eigenen Antriebs. Ich werde weiterhin die Augen rollen, wenn ich Postings sehe, die im Wesentlichen sagen: Introvertierte haben doch eh keine Chance. Doch haben wir. An manchen Stellen sind wir nur im Nachteil und müssen uns mehr anstrengen. Passiert, so spielt das Leben.
Dass unsere Gesellschaft Oberflächlichkeit fördert, lauten Menschen mehr vertraut als leisen und wir uns als Gesellschaft in eine (aus meiner Sicht) dramatische Richtung entwickeln, werde ich weiterhin laut und deutlich hier und im echten Leben besprechen. Aber ohne Mimimi.