Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich spüre einen dicken Knoten in der Kehle, fühle mich, als könnte ich keinen Schritt mehr vorwärts gehen. „Ich kann das nicht“, schießt es mir immer wieder durch den Kopf, „Das ist unmöglich, ich muss das abbrechen!“
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Universitätsgebäude bereits betreten und kam dem Raum immer näher, in dem ich zum ersten Mal vor knapp 30 Studierenden ein Seminar zum Thema „Einführung in die Linguistik“ halten sollte.
Dieser Beitrag ist ein Gastbeitrag von Anja. Du kannst mehr über sie erfahren und weitere Texte lesen, wenn du ihren Blog auf stillverwurzelt.de besuchst.
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Ja, ich will in die Hochschullehre!
Ich erinnere mich noch genau, wie ich einst als Germanistik-Studentin in einem Linguistik-Seminar saß, der Professorin bei ihren Ausführungen zuhörte und mir der Gedanke kam, dass das eigentlich ziemlich cool sei. Wie toll wäre es doch, wenn ich auch irgendwann mal dort vorne stehen würde.
Tatsächlich hatte ich bis dato noch überhaupt keine Ahnung, was ich mal mit meinem Germanistik-Studium anstellen sollte. Die Vorstellung, an der Uni zu arbeiten und zu unterrichten, war so ziemlich die erste, die sich irgendwie stimmig anfühlte. Warum, kann ich dir nicht genau sagen.
Vielleicht war es das Gefühl, mit Unterrichten etwas Sinnvolles tun zu können, gepaart mit einem Themengebiet, das ich gut beherrschte. Was aber völlig kontraproduktiv war: Ich gehörte zu den sehr zurückhaltenden und stillen Introvertierten, die überhaupt nicht gern im Mittelpunkt stehen.
Musste ich alleine Referate halten, war mir das mehr als unangenehm und vor jedem Mal hoffte ich, dass es keiner dieser Vorträge werden würde, bei dem meine Stimme zittrig und mein Kopf hochrot wurde. Das war tatsächlich nicht die Regel, aber es kam durchaus vor und war mir dann noch viel unangenehmer als die ganze Aufmerksamkeit der Mitstudierenden es ohnehin schon war.
Unterrichten an der Uni: Aller Anfang ist schwer
Trotzdem ließ mich der Gedanke an eine Universitätskarriere nicht los. Mein Weg brachte mich dann auch geradeaus dorthin: Ich ließ bei meiner Abschlussarbeits-Betreuerin fallen, dass ich Interesse hätte, nach dem Studium weiter an der Uni zu bleiben, und sie ließ diesen Wunsch ohne viel Umschweife wahr werden.
Ich wusste, dass meine Zurückhaltung eine ziemliche Herausforderung für mich darstellen könnte, aber ehrlich gesagt, ignorierte ich diese Bedenken: „Da kümmere ich mich eben drum, wenn’s so weit ist.“
Als es dann soweit war, dass ich mein erstes Seminar vor knapp 30 Leuten halten sollte, wehrte sich mein Körper komplett dagegen. Ich hatte das Gefühl, alles in mir wäre auf Flucht eingestellt und mein Geist würde sich langsam aber sicher allen linguistischen Wissens entledigen, das ich zur Vorbereitung so oft eingeübt hatte. Bis mir glücklicherweise ein paar Gedanken kamen, mit denen ich mich überzeugen konnte, nicht direkt das Handtuch zu werfen:
„Okay, was willst du tun? Wegrennen und Kündigen? Keine Option. Du gehst jetzt da rein, startest deine Präsentation und fängst an zu reden. Wenn es nicht klappt, dann klappt es halt nicht. Du warst vor ein paar Monaten selbst noch Studentin und weißt, dass da keine Monster vor dir sitzen.“
Ich ging also in den noch leeren Raum, startete meine Präsentation, ordnete meine Unterlagen und atmete tieeeeef durch. Sobald der Raum sich mit Studierenden füllte, während ich vorne saß, spürte ich überraschenderweise, dass ich ruhiger wurde.
Ich habe dann einfach angefangen zu sprechen und ab diesem Zeitpunkt kaum mehr über meine Nervosität nachgedacht. Ich war lange nicht so souverän, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich war nichtsdestotrotz zufrieden mit meiner Leistung.
Die Vorteile: Als Intro an der Universität lehren
Ich blieb drei Jahre lang an der Hochschule und unterrichtete jedes Semester Erstis und Fortgeschrittene, betreute Klausuren wie Hausarbeiten und hielt Einführungsvorträge vor mit Schülern gefüllten Vorlesungssälen.
Meine Selbstsicherheit stieg jedes Mal, sodass es mir schnell auch gar nicht mehr schwer fiel, komplexe studentische Fragen spontan und souverän zu beantworten. Ich kassierte sogar den einen oder anderen Lacher (nein, nicht auf meine Kosten), obwohl ich mich eigentlich nie als sonderlich witzig oder wortgewandt empfand.
Was aber vor jedem einzelnen Seminar blieb, war die Nervosität. Die habe ich innerhalb der ganzen Zeit niemals ablegen können. Doch ich wusste, würde ich einmal anfangen zu sprechen, käme ich in meinen Flow und die Nervosität würde verschwinden. Diese Gewissheit brachte mir etwas, was ich mir – als ich zum ersten Mal diesen Unterrichtsraum betrat – nicht im Traum hätte vorstellen können: Spaß!
Meine Introversion verlieh mir beim Unterrichten dann auch einige Vorteile:
- Ruhe und Geduld sind Gold wert, wenn der Lernstoff beim einen oder anderen Studenten einfach nicht hängen bleiben will. Und davon bringst du als Intro eine Menge mit.
- Eine Superkraft von Introvertierten ist unsere verfeinerte Beobachtungsgabe. Auch wenn sich auf die Frage „Wer hat’s nicht verstanden“ keiner meldet, kannst du doch immer relativ gut spüren, ob du die Inhalte nicht doch nochmal auf eine andere Art und Weise erklären solltest.
- Vor allem bei 1:1 Gesprächen mit verzweifelten Studierenden, deren Hausarbeiten einfach nicht vorangehen wollen, ist eine große Portion Einfühlungsvermögen deutlich von Vorteil. Gehörst du wie ich zu den empathischen Introvertierten, bist du da auf der sicheren Seite.
Du bist introvertiert und willst Lehrkraft werden?
Mein Tipp: Go for it! Wenn du wirklich unterrichten willst und das Gefühl hast, es könnte das Richtige für dich sein, probiere es aus! Lass dir durch deine Ängste keinen Strich durch die Rechnung machen. Denn die sind nie ein guter Ratgeber.
Als introvertierte Lehrkraft bringst du eine Menge Fähigkeiten mit, die man an der Universität gut gebrauchen kann. Vor allem introvertierten und zurückhaltenden Studierenden kannst du da ein gutes Vorbild sein. Stell dir vor, alle Dozenten wären extrovertiert, das würde auf Dauer ziemlich einschüchternd auf stille Studierende wirken. Als Intro machst du anderen Mut, dass man auch ganz wunderbar im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen kann, wenn man nicht so eine natürliche Öffentlichkeitsperson ist.
Zudem kannst du im Hinterkopf behalten, dass ein Dozentenjob an der Universität noch einmal etwas ganz anderes ist, als Lehrkraft an einer Schule zu sein. Die Studierenden, die du an der Uni unterrichtest, sind freiwillig dort (sollten sie jedenfalls sein) und am Lernstoff interessiert (naja, die meisten), sodass es eher unwahrscheinlich ist, dass sie dir das Leben schwermachen.
Meine Erfahrungen als Universitätsdozentin waren für mich Gold wert. Es war ein enormer Sprung heraus aus meiner Komfortzone, und ich profitiere auch 5 Jahre nach Abschluss der Lehrzeit noch davon: Mir fällt es seitdem deutlich leichter, Dinge zu wagen und einfach auszuprobieren. Nervosität hin oder her!
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