Der erste Introvertierte öffnet die Tür, schaut hinein und geht wieder. Der zweite Introvertierte betritt die Bar, setzt sich an einen Tisch und bestellt ein Bier. Der dritte Introvertierte steht peinlich berührt im Eingangsbereich und schwitzt. Der vierte Introvertierte sieht seine Freunde und setzt sich zu ihnen. Der fünfte Introvertierte schnappt sich das Mikrofon und singt Karaoke.
Warum Introvertierte nicht leicht zu erkennen sind
In letzter Zeit geht es hier viel darum, dass Introvertierte nicht alle gleich sind, aber Ähnlichkeiten haben. Leider gibt es noch immer viele Vorurteile, die uns Introvertierten das Leben schwer machen. Denn wenn alle schon glauben, zu wissen, wer wir sind, dürfen wir manchmal nicht mehr sein, wer wir sein wollen.
Es ist gut und wichtig, sich über Introversion zu informieren und zu versuchen, die eigenen Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen zu verstehen. Auch darf man andere Introvertierte beobachten. Aber wir dürfen nicht den gleichen Fehler wie unwissende oder ignorante Menschen machen und uns als homogene Gruppe betrachten.
Die 5 Introvertierten erklärt
Es gibt nicht nur fünf introvertierte Typen. Was es gibt, sind unterschiedliche Klassifikationen. Aber um die soll es gar nicht gehen – die fünf Beispiele aus der Einleitung sind eben nur das: Beispiele. Sie werden hier nur benutzt, weil sie sich nicht wehren können.
Der erste Introvertierte ist einer, der keine Lust auf Geselligkeit hat. Er mag keine Bars, denn sie sind laut und dort sind ihm zu viele Menschen. Gespräche springen hin und her, er muss sich aufplustern, um überhaupt gehört zu werden, und Alkohol lässt die Leute komische Dinge tun. Also geht er lieber. Das zeugt von Selbstbewusstsein, denn er kennt sich und weiß: Hier möchte ich heute Abend nicht sein.
Der zweite Introvertierte hat ebenfalls ein gewisses Selbstbewusstsein. Er ist nicht dort, um Kontakte zu knüpfen, aber er versteckt sich auch nicht. Er mag Bars, würde aber nicht jeden Tag dort Zeit verbringen. Nach einer Weile geht er zufrieden nach Hause – entweder weil er ein paar nette Gespräche geführt hat oder weil das Bier gut geschmeckt hat.
Der dritte Introvertierte ist ängstlich und fühlt sich unwohl. Das ist nicht die Folge seiner introvertierten Art, er hat mit Schüchternheit und Ängsten zu kämpfen. Ihm ist nicht wohl in einer unübersichtlichen Umgebung und er fragt sich, ob ihn alle beobachten. Hinzu kommt, dass ihn das alles furchtbar anstrengt und er am liebsten sofort nach Hause laufen und sich unter seine Decke kuscheln würde.
Der vierte Introvertierte ist in der Bar, um seine Freunde zu treffen. Ihm wäre ein Park vielleicht lieber gewesen oder eine kleine Runde zu Hause, doch er stört sich auch nicht an der Location. Er lacht und feiert mit seinen Freunden und als der Abend ausklingt, ist er froh, dass er dort war und dass er jetzt nach Hause kann.
Der fünfte Introvertierte singt gerne. Daher geht er auf die Bühne und zeigt sein Talent. Er schüttelt danach nicht freiwillig Hände, umarmt niemanden und schließt auch keine neuen Freundschaften. Sobald er von der Bühne runter ist, bleibt er ruhig und spricht nur, wenn er etwas zu sagen hat.
Die Gefahr von Schubladendenken
Alle fünf Introvertierten haben gemeinsam, dass sie die Zeit in der Bar anstrengt (oder im Fall des ersten Introvertierten anstrengen würde). Eine Bar ist keine „natürliche“ Umgebung, in der Introvertierte unbedingt besonders viel Zeit verbringen wollen. Denn laute Räume mit vielen Menschen bedeuten viele Eindrücke, die relativ ungefiltert auf introvertierte Gehirne und Gemüter einwirken.
Aber ein unsicherer Introvertierter wie Nummer 3 verliert seine Energie praktisch in dem Moment, in dem er durch die Tür schreitet. Eigentlich schon vorher, weil er statt Vorfreude nur Vorpanik verspürt. Nummer 4 ist entspannter und hat weder Angst noch große Sorgen – seine Freunde sind da und auch wenn er einen anderen Ort bevorzugt hätte, heißt das nicht, dass er für einen Abend nicht mal seinen Horizont erweitert.
Noch andere Introvertierte – wie beispielsweise Nummer 5 – sind so leidenschaftlich bei einer Sache dabei, dass sie selbstbewusst und zufrieden sind, auch wenn sie sich in einer augenscheinlich nicht für introvertierte Menschen optimierten Umgebung befinden.
Glaubt jemand, dass alle Introvertierten ängstlich und zurückhaltend wären, würden sie Nummer 5 und Nummer 4 wahrscheinlich auf keinen Fall als introvertiert einstufen. Das kann so weit gehen, dass selbst andere Introvertierte meinen: Du kannst nicht introvertiert sein, du fühlst dich in einer Bar (oder auf einer Bühne) gar nicht unwohl!
Ist das introvertierte Klischee im Kopf eines Menschen das eines asozialen Menschenhassers, erwartet er wohl eher Nummer 1: Auf gar keinen Fall würden Introvertierte eine Bar betreten. Was natürlich (auf alle introvertierten Charaktere bezogen) Unsinn ist, aber manche introvertierte Menschen sagen sich halt wirklich, dass sie doch an keinen Ort gehen, wo sie sich nicht wohlfühlen.
Das Problem ist, dass hier künstliche Zugangsbeschränkungen (Stichwort: Gatekeeping) geschaffen werden. Wer in eine Bar gehen kann, ohne ängstlich zu sein, ist angeblich nicht introvertiert – dann soll der sich auch mal nicht zu den Introvertierten zählen oder von ihren Tipps und Erfahrungen profitieren.
Ja, sowas passiert täglich im realen Leben und online. Aber es ist bescheuert. Verzeiht die Ausdrucksweise, aber ein selbstbewusster Introvertierter mit vielen Freunden hat genauso ein Recht darauf, seine introvertierte Seite zu erforschen und auszuleben wie ein Eigenbrötler mit Sozialphobien, der introvertiert ist.
Introversion ist ein prägendes Merkmal eines jeden Menschen. Wie wir Freunde finden, uns selbst präsentieren, lieben und hassen – all das wird von Introversion beeinflusst. Doch es ist niemals unsere gesamte Persönlichkeit. Erfahrungen, Wünsche, psychische Eigenheiten und mehr beeinflussen uns und machen uns nun mal verschieden. Das ist auch gut so.
Der Unterschied zu Hilfestellungen
Manchmal weisen Introvertierte darauf hin, dass jemand scheinbar nicht introvertiert ist, weil derjenige unter Ängsten leidet. Hier ist wichtig, den Hinweis zu geben, ohne ein Urteil zu fällen. Manche Menschen sind extrovertiert aber schüchtern oder ängstlich, andere sind schüchtern, ängstlich und TROTZDEM introvertiert. Wir müssen denjenigen die wichtigen Informationen und Hilfen geben, es selbst herauszufinden.
Abschließende Worte
Hoffentlich konnte ich mit dem kleinen Beispiel der 5 Introvertierten ein wenig Aufklärung betreiben. Es ist einfach schade, dass ich immer wieder lesen muss, dass manche Menschen nicht introvertiert sein könnten, wenn sie viele Freunde haben, gerne auf Bühnen stehen oder selbstbewusst sind. Da greifen noch immer viele Vorurteile, die ich (unter anderem hier) aus der Welt schaffen möchte.
Das Lustige ist, ich habe mich in allen Fünf wiedererkannt, je nach Situation und Tagesform.
Hi,
das gibt es natürlich auch! Geht mir ähnlich 🙂
Liebe Grüße
Hehehe…wie treffend. Ich flüchte stets ans Karaoke Mikro, um auf diversen Veranstaltungen meine Ruhe zu haben, und dass keinem auffällt, dass diese Abende sehr anstrengend für mich sind.