Egal ob man sich sehr viel oder überhaupt nicht mit Introvertiertheit (auch: Introversion) beschäftigt, an den vielen Vorurteilen kommt man nicht vorbei. Was mich daran besonders stört, ist die Tatsache, dass es vor allem introvertierte Menschen sind, die diese Klischees für die Wahrheit halten.
Hier kommen nun die größten Vorurteile gegenüber introvertierten Menschen und wie viel sie eigentlich mit der Realität zu tun haben. Wer keine Lust auf Klischees hat, kann auch gleich nach unten scrollen zum Punkt: Wie kann man Introvertiertheit überwinden?
Klischees über Introvertierte
Die häufigsten Klischees, mit denen sich Introvertierte im echten Leben und im Internet auseinandersetzen müssen, sind folgende: Wir sind schüchtern, einsam, arrogant oder unglücklich.
Das lässt sich mit einer einfach Suche bestätigen. Nehmen wir die Fotoplattform Pixabay. Gebe ich dort das Wort „introvertiert“ ein, spuckt mir das System diese Bilder aus:
Abgesehen von dem Pärchen sehen die Menschen auf diesen Bildern eher niedergeschlagen und einsam aus (beziehungsweise gibt es nun kaum noch Ergebnisse, früher waren wie gesagt viele einsame Personen zu sehen). Auch bei den Google Suchergebnissen und Vorschlägen finden sich sofort Wörter wie „überwinden“, „extrovertiert werden“ oder „unglücklich“ und „arrogant“.
Die meisten Probleme kommen allerdings nicht von Google oder anderen Plattformen. Denn die wenigsten Menschen suchen im Internet nach Wörtern, die Introvertierte beschreiben (Ihr habt es gut, versucht mal, ständig über das Thema Introversion zu schreiben, ohne immer dieselben Wörter zu nutzen).
Im Alltag sieht es schon anders aus. Hier ein paar Klassiker:
„Du bist so ruhig, sag doch mal was.“
„Du hast den ganzen Abend nichts gesagt, hat es dir nicht gefallen?“
„Du willst nie Zeit mit mir verbringen.“
„Wenn du so drauf bist, brauchst du gar nicht erst auftauchen.“
Da steht nirgendwo etwas von arrogant oder unglücklich, aber es ist in jedem Satz irgendwie impliziert. Denn wann immer uns solche Fragen gestellt werden, überlegen wir, ob wir etwas falsch gemacht haben.
Vielleicht hatten wir viel Spaß an dem Abend, obwohl wir wenig gesprochen haben. Oder wir mussten eine Verabredung absagen, weil schon der Gedanke, unter Menschen zu gehen, uns in Richtung Panikattacke gelotst hat.
So oder so, Kommentare wie diese hören wir regelmäßig und sie suggerieren, dass etwas nicht mit uns stimmt. Das ist nicht nur gemein, es ist schlichtweg nicht wahr. Das kann ich auch beweisen.
Sind Introvertierte arrogant?
Nein. Gibt es arrogante Introvertierte? Natürlich. Doch was manche als Arroganz interpretieren, ist häufig nur unser besonderes Zeit- und Energiemanagement. Wir mögen keinen sinnlosen Smalltalk und denken oft (nicht immer, schön wär’s) lange nach, bevor wir uns zu einem Thema äußern.
Was dabei rauskommt ist, dass wir seltener sprechen und wenn wir es tun, dann mit Bedacht und häufig gut informiert. In Zeiten von Fake News und Empörismus fühlen sich viele Menschen angegriffen, wenn man nicht sofort alles glaubt oder gar mitpöbelt.
Wenn der Kollege sich über den Bürgermeister aufregt, weil dieser einen neuen Porsche fährt, dann kommt der Introvertierte daher und fragt erst einmal, ob das Ding geleast ist, ob er darauf gespart hat oder ob es gar ein Geschenk war.
Wir arbeiten gerne mit mehr Informationen als mit weniger. Also reden wir nicht gleich drauf los und wollen uns auskennen – wer das als Arroganz interpretiert, gibt sich einfach nicht so viel Mühe, jedem Gespräch einen gewissen Sinn zu verleihen.
Also nein, wir sind nicht grundsätzlich arrogant, wir machen nur nicht überall mit. Ziemlich arrogant von Dir zu glauben, weil Du etwas sagst oder tust, müssten alle anderen es auch mögen, oder?
Sind Introvertierte schüchtern?
Auch nein. Allerdings gibt es hier Zahlen, die belegen, dass Schüchternheit häufiger mit Introvertiertheit als mit Extravertiertheit einhergeht. Auch hier liegen die Ursachen in unserem verschobenem Fokus.
Bevor wir sprechen, denken wir darüber nach, ob unsere Aussagen hilfreich sind und ob andere daran überhaupt Interesse haben. Also halten wir uns häufiger zurück.
Weitere Gründe, warum wir uns zurückziehen, können Sensibilität gegenüber Reizen (Stichwort: Hochsensibilität) oder ein erhöhtes Stresslevel sein. Aber nicht jeder, der wenig spricht, ist deshalb auch schüchtern.
Sind Introvertierte unglücklich oder einsam?
Introvertierte sind nicht unglücklich. Dieses Vorurteil hält sich hartnäckig, weil viele das Alleinsein mit dem Unglücklichsein verwechseln.
Für Extravertierte ist es schwierig, sich zu beschäftigen und sie beziehen ihre Kraft aus sozialen Interaktionen. Wenn sie diese längere Zeit nicht bekommen, fühlen sie sich schlecht. Und da unsere Gesellschaft nun mal durch extravertierte Menschen geprägt wird, setzen sie allein und einsam gleich.
Einsamkeit ist ein negatives Gefühl. Alleine sein erst einmal nur ein Zustand. Ob man diesen als positiv oder negativ empfindet, hängt von der eigenen Person und auch von der Situation ab, in der man sich gerade befinden.
Also sind wir nicht unglücklich – auch wenn wir vielleicht weniger lächeln, seltener durch die Gegend tanzen (tue ich trotzdem, aber halt alleine in der Küche) oder auch weniger Freunde treffen.
Trotzdem muss an dieser Stelle schon mal erwähnt werden – mehr dazu weiter unten -, dass man durchaus unglücklich mit seiner Introversion sein kann. Wer sich abgehängt fühlt, mehr aus sich herausgehen möchte oder Chancen im Leben verpasst, weil er introvertiert ist, wird selbstverständlich auch unglücklich sein.
Wie zu jeder anderen Fragen hier gilt: Es gibt unglückliche Introvertierte, aber „unglücklich“ darf kein definierendes Merkmal für uns sein. Sonst fangen wir an, es zu glauben und schon wird der Satz „Introvertierte sind unglücklich“ zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Wie kann man Introvertiertheit überwinden?
Introvertiertheit kann man nicht überwinden. Studien zeigen, dass Introversion in vielerlei Hinsicht angeboren oder durch frühe Sozialisation bedingt ist.
Aber man kann einige Aspekte beeinflussen, die mit Introvertiertheit einhergehen. Zum Beispiel ist Schüchternheit ein Merkmal, das sich durch Therapie oder Training steuern lässt. Dadurch lässt sich kein künstliches Bedürfnis nach vielen Menschen schaffen, aber man lernt, mit anderen besser zu kommunizieren.
Aber überwinden? Ich finde die Wortwahl schon furchtbar. Man überwindet ein Trauma oder eine Krise, aber doch keine Persönlichkeit, die mit so vielen tollen Fähigkeiten einhergeht. Wir denken tiefgründiger, viele fühlen mehr, einige sind hochbegabt, die meisten sind gute Planer und Zuhörer, wir setzen mehr Fokus auf Qualität als auf Quantität.
Besonders letzteres ist so wichtig. Denn in vielen Teilen der westlichen Welt geht es nur noch um Konsum. Mehr, mehr, mehr. Wir brauchen mehr Follower auf Instagram, immer das neueste Smartphone, mindestens zwei Autos (und nie älter als 2 Jahre), mehr Freunde, mehr Geld, mehr.
___________
Mehr dazu: FOMO – Die Angst, etwas zu verpassen.
___________
Dadurch verlieren so viele Dinge an Wert. Ich erinnere mich noch, wie begeistert ich war, als meine Familie die erste Digitalkamera mit Selbstauslöser gekauft hat. Aus dieser Zeit gibt es dutzende Fotos von mir, wie ich vor der Linse herumspringe.
Heute? Smartphone raus, zack, Foto fertig. Ich muss mir Zeit nehmen, um hin und wieder zu schätzen zu wissen, dass ich nun mit einer Kamera Videos und Fotos in hoher Qualität aufnehmen kann und so völlig frei entscheiden kann, wie kreativ ich damit arbeite.
Viele introvertierte Menschen verbringen Zeit mit ihren eigenen Gedanken. Dadurch wird es schwerer, einfach blind durch das Leben zu gehen. Wenn die Partytruppe an einem Obdachlosen vorbeizieht, sind die anderen so beschäftigt mit sich selbst, dass sie ihn gar nicht sehen. Dem Introvertierten fällt der Mann nicht nur auf, er fragt sich auch, wie er wohl dahingekommen ist, wie das Wetter später wird und ob der Obdachlose wohl genug zu essen hat. Wer könnte einen so intensiven Blick auf die Welt überwinden wollen?
Mit Introvertierten reden
Die meisten von uns kann man einfach fragen, ob es uns gut geht. Unseren Freunden und engen Angehörigen sagen wir nämlich meist die Wahrheit. Die Ironie liegt darin, dass ihr unser Verhalten nicht überinterpretieren solltet, obwohl wir selbst oft dazu neigen.
Natürlich leiden nicht nur Introvertierte unter Vorurteilen und Klischees. Extravertierte sind immer glücklich, oder? Sind die nicht alle super versoffenen und laut? Nein. Auch da müssen wir uns alle mal an die Nase fassen.
Wichtig für alle Introvertierten und Menschen, die einen oder mehrere Introvertierten in ihrem Leben haben: Wenn wir unglücklich sind, dann weil etwas in unserem Leben nicht stimmt oder weil uns die Gesellschaft sagt, dass wir so wie wir sind, nicht glücklich sein dürfen. Aber Unglück ist kein Partner von Introversion und eins muss klar sein: Wir lassen uns nicht gerne zu Partnerarbeit zwingen, also redet es uns nicht ein.
Mehr dazu: 15 Fragen und Antworten rund um das Thema Introversion