Introversion einfach erklärt: 5 Beispiele aus dem Leben

Introvertiert zu sein, bedeutet … ja, was eigentlich? Immer wieder suchen Introvertierte nach einer Möglichkeit, ihre Introversion anschaulich zu erklären. Gleichzeitig wollen Extrovertierte oftmals verstehen, was es denn nun mit ihren introvertierten Freunden, Partnern und Familienmitgliedern auf sich hat.

Anstatt nun wieder auf Definitionen oder kurze Beispiele zu setzen, soll dieser Beitrag endlich ganz einfach und doch umfangreich erklären, was es bedeutet, introvertiert zu sein. Fünf Beispiele aus dem echten Leben sollen dabei helfen. Am Ende ist Introversion hoffentlich nicht mehr diese vage Idee, sondern etwas, was wir alle etwas besser verstehen.

introvertierte eigenschaften

Wie es sich anfühlt, wenn die Energie weg ist

Introvertierte haben viel Antrieb und Energie, wenn sie alleine sind, in kleinen Gruppen oder wenn sie sich auf eine Sache konzentrieren können. Sie verlieren diese Energie, wenn sie in lauter Umgebung sind oder mit vielen Menschen Kontakt haben (müssen).

Das ist die trockene Variante, die man hier und überall sonst lesen kann. Sie gibt jedem eine vage Idee, aber seien wir ehrlich: Ein Extrovertierter kann damit noch nicht viel anfangen.

Also: Stell dir vor, du wärst gerade einen Marathon gelaufen. Dein Kopf schwirrt, dein Körper ist völlig durch, du konzentrierst dich hauptsächlich auf das Atmen. Du willst dich feiern lassen, duschen und dann ab auf die Couch. Verständlich, oder?

Doch direkt nach dem Marathon kommt ein Freund zu dir und fragt, ob ihr nicht noch wandern gehen wollt. Ähm, nein danke, ich bin fix und alle, denkst du dir und sagst es auch. Daraufhin verzieht dein Freund das Gesicht, rollt mit den Augen und sagt in etwa das Folgende:

„Wow, okay. Das ist aber auch nicht normal, das weißt du aber, oder? Du musst doch auch mal unter Menschen gehen.“

Du fühlst dich schlecht. Dann wirst du entweder nachgeben und dich zum Wandern überreden lassen, obwohl es dir schon richtig dreckig geht, oder du sagst ab und riskierst, dass dein Freund sauer oder enttäuscht ist und fühlst dich deshalb ebenfalls nicht gut.

So ist es, wenn man introvertiert ist.

Wenn wir Introvertierten viel Kontakt zu anderen hatten, reden mussten, zuhören sollten, viele Dinge tun mussten, dann fühlen wir uns körperlich und geistig erschöpft. Wie nach einem Marathon ist unser Körper am Runterfahren und gibt ganz klar das Zeichen: Stopp, wir müssen uns jetzt zurückziehen.

Nur verstehen das viele Menschen nicht. Sie sehen nicht ein, warum man denn nicht noch einen trinken gehen kann, um die Häuser zieht oder wenigstens noch zusammen eine Pizza bestellt.

Ganz einfach: Ihr bittet uns in diesem Moment, trotz völliger Erschöpfung und klar rot leuchtender Warnlampe, für euch noch eine Ausnahme zu machen, weil ihr gerade Lust darauf habt. Selbst wenn wir dann sagen, dass wir nicht mehr können, gebt ihr uns meist das Gefühl, dass mit uns etwas nicht stimmen würde.

Aber würdet ihr nicht auch blöd gucken, wenn jemand direkt nach einem Marathon noch eine Wandertour vorschlagen würde?

introvertierte und energie

Wie sich Partys für Introvertierte anfühlen (können)

Introvertierte verarbeiten Reize (fast immer) anders als Extrovertierte. Das lässt sich schon in Kindern nachweisen. Doch es geht heute nicht um die Wissenschaft. Die ist ja schön und gut, doch verständlich ist sie meist nicht.

Nehmen wir also das Beispiel Partys. Auf Partys – egal ob Hauspartys, Großveranstaltungen oder Clubbesuche – werden wir alle mit unglaublich vielen Eindrücken beschallt. Es ist laut, es sind viele Menschen dort, die meisten sind fremd, die Situation ist neu und nicht planbar.

Manche Menschen lieben diese Hektik und können sich darin verlieren. Sie lassen sich einfach treiben und haben keinen Plan und keine Sorgen. Leider ist das den wenigsten Introvertierten in die Wiege gelegt worden.

Hier also mal ein Versuch, zu erklären, warum introvertierte Menschen Partys meiden, sie seltener besuchen oder sich auf ihnen nicht wohlfühlen: Stell dir vor, du triffst drei Menschen. Einen guten Freund, einen Kumpel und eine flüchtige Bekanntschaft.

Alle erzählen dir von ihren Erlebnissen am Wochenende – und zwar gleichzeitig. Hörst du wirklich alle Geschichten oder bist du eher überfordert?

Auf Partys gibt es viele Menschen, viele Dynamiken, viel Musik und meist auch viel Alkohol. Das macht die ganze Sache aufregend, verwirrend und alles in allem überfordernd. Denn während sich Extrovertierte treiben lassen, nehmen Introvertierte alles Mögliche wahr.

Es fällt uns einfach schwerer, Dinge hinten anzustellen oder zu ignorieren. Beim Beispiel mit den drei Geschichten vom Wochenende, wäre es beispielsweise am einfachsten, sich nur auf den guten Freund zu konzentrieren und somit die für dich wichtigste Geschichte zu hören.

Aber die anderen beiden hören deshalb ja nicht auf zu quatschen. Und wenn du anschließend nach Details gefragt wirst, stehst du im Regen.

Partys und andere Veranstaltungen sind für uns einfach stundenlanges Bewältigen neuer Eindrücke. Manche von uns können das gut, andere nicht. Viele therapieren sich auch mit Alkohol, der es einfacher macht, Dinge zu ignorieren und einfach „mitzumachen“.

Die Frage ist, wenn dir ein introvertierter Freund sagt, er fühlt sich nur in der Lage, mit dir auf eine Party zu gehen, wenn er sich heillos betrinkt, solltest du dann nicht überlegen, ob ihr nicht lieber an einem anderen Tag zusammen kocht oder einen Kaffee trinken geht, damit er sich wohl fühlt? Ist dein Partywunsch wirklich wichtiger als das Wohlbefinden deines Freundes?

PS: Viele introvertierte Menschen gehen gelegentlich gerne auf Partys oder nur auf sehr spezielle Veranstaltungen. Aber einfach mal nachfragen, worauf derjenige Lust hat, kann doch nicht so schwer sein.

UPDATE: Dieses tolle Video zum Thema Introvertierte auf Partys habe ich gerade erst gefunden und finde es passend:

was bedeutet introvertiert

Warum sagen Introvertierte so oft Termine ab?

Ein absolutes Lieblingsthema unter Introvertierten und ihren Liebsten: Last-Minute-Absagen. Die sind richtig nervig und richtig unhöflich.

Daher hier mal eine kurze und knappe Erklärung dafür, warum es unter Intros so häufig passiert: Wenn ihr nach einem Treffen fragt – sei es eine Party, ein Ausflug oder nur ein Spaziergang – und wir ja sagen, dann sind unsere Energietanks für gewöhnlich gerade aufgeladen.

Dann kommt der Tag des Ereignisses und wir sind plötzlich wieder einen Marathon gelaufen. Wir kämpfen mit uns selbst, ob wir nicht eigentlich doch zu dem Treffen gehen wollen. Wir mögen dich ja und wir wissen, es könnte vielleicht lustig werden.

Doch auch dieses Hin und Her in unseren Gedanken kostet uns Energie. Und je länger wir überlegen, umso erschöpfter sind wir. Nicht weil wir euch nicht sehen wollen, sondern weil wir körperlich und mental eigentlich nicht die Kraft haben.

Dazu eine deutliche Ansage: Wir sind daran selbst schuld. Denn wir müssten viel offener und ehrlicher mit unserer Introversion und den daraus wachsenden Bedürfnissen umgehen. Dann hättest du nämlich die Chance, uns zu verstehen und uns vielleicht eine Alternative anzubieten. Indem wir aber diesen inneren Kampf für uns behalten, sind wir einfach nur die Idioten, die im letzten Moment absagen.

Trotzdem verstehst du nun hoffentlich, dass wir dich nicht plötzlich nicht mehr leiden können oder zickig sein wollen. Wir haben uns nur mehr zugetraut, als wir die Pläne gemacht haben und glaube uns: Es nervt uns auch, wenn wir plötzlich nicht mehr können.

wie sind introvertierte

Weshalb reden Introvertierte so wenig?

Introvertierte sind ruhig. Zumindest in vielen Situationen. Wer einen introvertierten Freund oder Partner hat, der über sein Hobby oder eine Leidenschaft spricht, wird nichts von Ruhe oder Zurückhaltung sehen.

Doch wir hören uns trotzdem sehr häufig an, dass wir aber still wären und doch auch mal was sagen könnten oder nicht immer so grimmig gucken sollen.

Warum wir viel denken und wenig sagen: Rätsel. Um für nicht-introvertierte Personen eine Erklärung zu finden, nehmen wir ein Rätselbeispiel.

Gar kein konkretes, es kann das Monty-Hall-Dilemma oder ein „Wie viele Söhne hat…“ Rätsel sein. Wichtig ist nur: Es gibt verschiedenste Lösungswege, du kennst das Rätsel bisher nicht und du hast nur einen Versuch für die Antwort.

Du wirst dir also Zeit nehmen, alle möglichen Optionen und ihre Alternativen durchgehen, noch mal von vorne anfangen und nichts überstürzen. Glückwunsch, jetzt denkst du gerade so wie die meisten Introvertierten.

Der Unterschied: Für Introvertierte kann absolut jedes Gespräch ein solches Rätsel sein.

Wir sagen nicht einfach, was uns in den Sinn kommt. Die Aussagen und Fragen, die in einem Gespräch aufkommen, nehmen wir ernst. Die Bedeutung dahinter, die verschiedenen Antwortmöglichkeiten, potentielle Fehler – das alles ist Teil unserer Gedankengänge.

Dazu kommt für viele der Druck, nur einen Versuch zu haben. Das stimmt natürlich nicht, doch gerade in größeren Gruppen oder unter Fremden, fühlt sich für die meisten Intros alles nach einem Test an. Jede Aussage hat für uns einen Wert. Wir wollen keine Falschaussagen riskieren und schon gar nicht irgendetwas sagen, was gar keinen Mehrwert bietet.

Das lässt uns zwar zu komplexen und interessanten Menschen werden, denn wir sind wie gemacht für tiefgründige Gespräche, doch im Alltag ist das nur ein Hindernis. Denn während alle anderen von Thema zu Thema springen, einfach herausposaunen, was sie so denken, sind wir Intros am Rätseln.

Wenn du also möchtest, dass ein Introvertierter mehr spricht, dann sorge dafür, dass er oder sie sich wohlfühlt. Das ist meist in kleineren Gruppen der Fall oder wenn es um Dinge geht, mit denen sich der Introvertierte deiner Wahl gut auskennt. Smalltalk ist einfach nicht unser Ding.

introvertierte kommunikation

Sind introvertierte Menschen im Nachteil?

An dieser Stelle sollte das Thema schon etwas greifbarer sein. Ich muss davon ausgehen, dass dieser Beitrag von Menschen gelesen wird, die Introvertierte (sich selbst oder andere) besser verstehen wollen.

Doch wer uns verstehen möchte, muss auch erkennen, dass wir nicht nur auf individueller Ebene mit Unverständnis zu kämpfen haben. Manchmal fühlt es sich an, als wäre die Gesellschaft grundsätzlich gegen uns eingestellt.

„Wir“ feiern Menschen, die nichts anderes können, als sich selbst zu verkaufen (Kardashians). Charismatischen Menschen werden alle möglichen Dinge verziehen, weil sie einfach so beeindruckend sind (Zlatan Ibrahimovic). Wenn mal ein rücksichtsvoller, zurückhaltender und gutherziger Mensch berühmt wird, wird er als Ausreißer und Ikone bezeichnet (Keanu Reeves).

In Millionen von Zeugnissen introvertierter Schüler stand und steht: Guter Schüler, muss sich aber mehr beteiligen. Gruppenarbeiten sind nicht mehr die Ausnahme, sondern der Standard. Mit einer bunten und ansprechenden Präsentation kann man den Lehrer beeindrucken, ohne gute Inhalte abzuliefern.

Höhere Jobs gehen nicht an die Menschen, die konstant gut und gewissenhaft arbeiten, sondern an diejenigen, die sich mit den richtigen Personen verstehen. Überall auf der Welt arbeiten fleißige und effektive Männer und Frauen für Selbstdarsteller, die eigentlich so gut wie keine Ahnung haben.

Warum diese Beispiele? Weil wir von Anfang an lernen, dass unsere Art nicht die beste oder überhaupt die richtige ist. Die Nachricht, die uns von klein auf präsentiert wird, ist: Was du bist oder leistest, ist nicht so wichtig, wie das, was du darstellst.

Daher ist es umso wichtiger, dass wir Menschen in unserem Leben haben, die uns dieses Gefühl nicht vermitteln. Wenn du einem Introvertierten ein guter Freund oder Partner sein willst, dann lass ihn weiterhin introvertiert sein und zwing ihn nicht, sich der Welt anzupassen.

introvertierte gesellschaft

Es verbiegen sich so viele von uns, weil wir glauben, sonst nichts oder zumindest weniger wert zu sein. Dabei sind wir kreativ, klug, gewissenhaft, motiviert, mit großen Zielen ausgestattet oder Weltverbesserer. Bitte lasst uns weiterhin so sein, denn ihr bekommt mit uns gute Freunde, treue Partner oder liebevolle Familienmitglieder – aber wenn wir uns wieder und wieder verändern sollen, dann werden wir verbittert, traurig oder gar depressiv.

Das lässt sich ziemlich leicht verhindern, indem wir füreinander etwas mehr Verständnis aufbringen. Erklär du uns also, was du vorhast und wir sagen dir, wie wir uns damit fühlen. So einfach ist das. Dann können so viele Probleme auf Anhieb gelöst werden. Davon profitieren wir alle.


Für alle introvertierten Leser gilt: Ergänzungen erwünscht! Wir können uns nicht nur über die Welt und ihre Extrovertierten beschweren und dann die Füße hochlegen. Scrollt doch mal runter, Alex hat bereits den Anfang gemacht!
Dieser Beitrag ist nur ein kleiner Schritt. Aber viele kleine Schritte werden irgendwann auch ein Marathon.

5 Kommentare

  1. Hallo Jennifer,

    auf diesen Beitrag habe ich schon gespannt gewartet. Es war eine wirklich gute Idee von Dir, die Merkmale der Introversion anhand von Beispielen aus dem echten Leben zu beschreiben. Ausführlich und verständlich erklärt, wie üblich. Wollen wir hoffen, dass der eine oder andere Extrovertierte nach dieser Lektüre uns Introvertierte mit anderen Augen betrachtet. Nachdem Du hier explizit um Ergänzung bittest, werde ich gleich mal den Anfang machen.

    Vielleicht wäre es für wissbegierige Leser auch interessant zu erfahren, wie sich in ein und derselben Situation ein schüchterner, ein introvertierter sowie ein extrovertierter Mensch am ehesten verhalten würde. Mit folgendem Alltagsbeispiel erkläre ich interessierten Leuten schon seit Jahren den Unterschied. Zumindest versuche ich es.

    Stellen wir uns drei junge Singlemänner vor. Der erste Mann ist schüchtern, der zweite introvertiert und der dritte extrovertiert. (Mir ist klar, dass sowohl intro, als auch extrovertierte Menschen schüchtern sein können. Gehen wir in diesem Fall bitte davon aus, dass beim schüchternen Mann die Schüchternheit im Vordergrund steht, während der intro und der extrovertierte Mann beide NICHT schüchtern sind).

    Alle drei haben vor, sich in einem Kleidergeschäft eine neue Hose zu kaufen. Der Schüchterne betritt das Geschäft als Erster. Er findet aber nicht die Hose, die er sucht. Da erblickt er eine junge, hübsche Verkäuferin, die auch noch einigermaßen sexy angezogen ist. Nun steht er bereits vor einem Problem: Er traut sich nicht, die hübsche Verkäuferin anzusprechen und nach der Hose zu fragen.

    Warum traut er sich nicht? Weil er aufgrund der Schüchternheit soziale Ängste hat. Sein ständiger Begleiter ist die Angst, sich zu blamieren. Er fürchtet sich, von anderen „bewertet“ zu werden, kein vernünftiges Wort herauszubringen, rot zu werden oder was auch immer. Er ist gehemmt allein deswegen, weil er der schönen Verkäuferin eine einfache Frage stellen will.

    Wie wir wissen, ist Schüchternheit im Gegensatz zu Intro und Extraversion nicht angeboren, sondern durch Erziehung und Umwelteinflüsse „antrainiert“. Der Grund für die Schüchternheit des Mannes ist an dieser Stelle jedoch nicht relevant. Hier soll es einzig und allein um die Darstellung der unterschiedlichen Verhaltensweisen gehen.

    Wenn der Schüchterne die Verkäuferin endlich fragt, wird er vermutlich sehr unsicher wirken. Eventuell zittern ihm die Hände, vielleicht stottert er. Es zeigen sich typische Anzeichen starker Schüchternheit oder sozialer Phobie. Die Verkäuferin zeigt ihm die gewünschte Hose. Ohne Zweifel gefällt ihm die attraktive Frau, die er gerne näher kennenlernen würde. Aber nachdem es ihn schon derartige Überwindung gekostet hat, sie nach der Hose zu fragen, soll er ihr jetzt auch noch Interesse signalisieren? Unmöglich, das traut er sich nicht. Er zahlt und verlässt den Laden, erleichtert, die Situation hinter sich gebracht zu haben, aber aufgrund seiner Feigheit sich auch selbst verurteilend.

    Dann betritt der Introvertierte das Geschäft. Gleiche Szenerie: Er findet nicht die Hose, die er sucht und erblickt die junge, hübsche Verkäuferin. Im Gegensatz zum Schüchternen hat er keine sozialen Ängste. Was der Introvertierte jedoch für eine Kontaktaufnahme braucht, ist ein KONKRETER Grund. Diesen Grund hat er in unserem Fall, denn er möchte ja wissen, wo er die Hose findet, nach der er sucht. Also überlegt er nicht lange und geht zielstrebig, ohne irgendwelche Anzeichen von Verunsicherung, auf die Verkäuferin zu, grüßt freundlich und trägt ihr sein Anliegen vor.

    Solange sich das Gespräch um die Hose dreht, hat der Introvertierte kein Problem, denn die Hose ist ja der Grund für die Unterhaltung. Der Introvertierte spricht also auch hier, analog zu sonstigen Gesprächssituationen, weil er etwas zu sagen hat. Wie alle Introvertierten, würde auch er nicht reden, nur um des Redens Willen. Daraus ergibt sich automatisch das, was als Nächstes passiert: Sobald die Verkäuferin ihn zur gewünschten Hose geführt hat, ist der Grund für das Gespräch vorbei und der introvertierte Mann hat in dieser Situation nichts mehr zu sagen.

    Natürlich würde auch er die hübsche Verkäuferin gerne näher kennenlernen. Dazu müsste er jetzt aber ein inhaltsloses Gespräch beginnen, das an der Oberfläche kratzt. Wenn er ein erfahrener Introvertierter ist, dann weiß er, dass ihn Smalltalk und „drauf los flirten“ überfordert. Ihm ist bewusst, dass ihm das zu anstrengend ist und er dabei keine gute Figur machen würde.

    Aber vielleicht merkt er sich ja ihren Namen, den er am Schild auf ihrem Hemd gelesen hat und kontaktiert sie später in Ruhe über Facebook. Er könnte behaupten, in Eile gewesen zu sein und keine Zeit für ein längeres Gespräch gehabt zu haben. Wenn sie darauf einsteigt, hat er ausreichend Zeit, einiges über sie in Erfahrung zu bringen. Durch das schriftliche Beschnuppern kennt er nun ihre Vorlieben und Hobbies. Wenn es dann zu einem Treffen kommt, hat er genug interessante Themen im Kopf, über die er mit ihr reden kann. Kein Smalltalk mehr nötig! Raffiniert, oder? Introvertierte sind kreativ. Der introvertierte Mann aus unserem Beispiel hat es sogar geschafft, seine Unfähigkeit zum spontanen Flirten, also Smalltalk, zu umgehen und die hübsche Verkäuferin trotzdem kennenzulernen.

    Als letztes betritt der extrovertierte Mann das Geschäft. Bis zum Zeitpunkt, wo die Verkäuferin ihm die Hose zeigt, läuft alles genau wie beim Introvertierten. Dann aber zeigt sich der Unterschied zwischen intro und extrovertierter Verhaltensweise deutlich: Wenn der Extrovertierte die Verkäuferin kennenlernen will, wird er spätestens jetzt den Smalltalk einleiten. Natürlich sind die typischen Opener auch Introvertierten bekannt: „Wie lange arbeitest du schon hier, bis wann hast du Dienst, arbeitest du gerne hier,..?“.

    Ja, in der Theorie ist das auch dem Schüchternen bekannt, dem Introvertierten sowieso. Der Schüchterne traut sich nicht, mit ihr zu flirten, er hat Angst. Der Introvertierte hat keine Angst, ist mit inhaltsleeren Gesprächen jedoch überfordert. Den ersten Satz „wie lange arbeitest du schon hier?“ brächte er bestimmt noch über die Lippen. Aber das war´ s in der Regel auch schon. Er kann diesen Smalltalk einfach nicht am Laufen halten. Wenn der Ball ununterbrochen hin und her gespielt wird, geht ihm das zu schnell. Er kommt bei diesem Tempo nicht mit, es bleibt ihm nicht genügend Zeit, über Antworten und Wortmeldungen nachzudenken. Jene Zeit zum Nachdenken, die ein Introvertierter beim Reden dringend braucht, aber bei Inhaltslosem Smalltalk einfach nicht hat. Längere Gesprächspausen wirken auf das Gegenüber komisch, was gewiss einer der Gründe ist, warum Introvertierte häufig als genau das bezeichnet werden: Komisch.

    Vielleicht ist dem einen oder anderen interessierten Leser der Unterschied zwischen schüchternem, introvertiertem und extrovertiertem Verhalten durch dieses Alltagsbeispiel verständlicher geworden. Wenn ich ein wenig zur Aufklärung beitragen konnte, würde es mich jedenfalls freuen.

    • Danke für das Beispiel! Ich habe den Hinweis im Beitrag mit eingebaut, damit die Leser gleich herunterscrollen können, um deine Ergänzung zu lesen 🙂

      Das geht auch ein wenig in die Richtung „Wie erkenne ich einen Introvertierten“. Das ist ein Beitrag, vor dem ich mich schon eine Weile drücke, weil er fast unmöglich zu schreiben ist, ohne in Fettnäpfchen oder Halbwahrheiten zu treten. Vielleicht muss ich den aber doch endlich mal in Angriff nehmen!

      Liebe Grüße

      • Tja, wie erkennt man einen Introvertierten…eine der größten Schwierigkeiten ist bestimmt die Unterscheidung zwischen introvertiert und schüchtern. Von außen betrachtet, sind gewisse Verhaltensweisen ja ziemlich identisch. Lediglich die Beweggründe für besagtes Verhalten sind nicht dieselben.

        Wer das als Außenstehender auseinanderhalten kann, muss schon ein sehr feines Gespür entwickelt haben, das er sich nur durch intensive Beschäftigung mit der Thematik angeeignet haben kann. Aber mal ehrlich: Wer hat das schon? Selbst ich, der sich seit Jahren damit auseinandersetzt, kann die Menschen nicht immer eindeutig zuordnen.

        Außerdem bin ich überzeugt, dass wir Introvertierten uns von Natur aus leichter tun, andere Introvertierte zu erkennen. Selbst dann, wenn sich ein Introvertierter (noch) nicht ausreichend über seine Veranlagung informiert hat, wird er für andere introvertierte Menschen instinktiv mehr Empathie und Verständnis aufbringen, als die meisten Extrovertierten.

        Das Verhalten des Introvertierten ist ihm ja an sich selbst bekannt, also wird er ihn nicht voreilig als sonderbar, komisch oder sogar abnormal abstempeln. Selbst dann nicht, wenn er noch zu den unerfahrenen Introvertierten gehört, die sich regelmäßig die berühmte Frage stellen: „Was stimmt mit mir nicht?“
        Viel eher wird er den anderen (unbewusst?) als Gleichgesinnten oder sogar Leidensgenossen betrachten.

        Auf einer Veranstaltung mit Lärm und vielen Menschen, erkenne ich die Introvertierten leicht. Das sind diejenigen, die irgendwo hilflos herumstehen, oftmals mit Bier oder Weinglas in der Hand, damit sie sich wenigstens an irgendetwas „festhalten“ können. An keine der kleinen Gruppen an den Tischen finden sie richtigen Anschluss, sie sind nicht fähig, sich an den oberflächlichen, temporeichen Gesprächen zu beteiligen. Sie fühlen sich in der Menschenmenge verloren und ihr Energielevel fällt rasant und unaufhaltsam nach unten.

        Das kennen wir Intros doch alle! Auf Festen und Partys (zu denen ich selten gehe) brauche ich mich nur ein wenig umzusehen, ob es dort Leute gibt, denen es ähnlich (schlecht) geht wie mir. Ich erinnere mich noch an die Weihnachtsfeier meiner alten Firma. Ich stand da, wie im vorigen Absatz beschrieben und sah einen Kollegen aus einer anderen Abteilung teilnahmslos an der Bar lehnen. Ich kannte ihn kaum und wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er introvertiert ist. Ich vermutete es jedoch stark.

        Um sicher zu gehen, beschloss ich, einen „Introvertierten – Test“ an ihm durchzuführen. Mir war bekannt, dass er ein Hobby hatte, Bildhauerei war es, wenn ich mich richtig erinnere. Ich stellte mich also neben ihn und fragte ihn, ganz direkt und ohne irgendwelche Höflichkeitsfloskeln, ob er mir von seinem Hobby ein wenig erzählen könnte. Volltreffer! Jetzt, da ich ein Thema angesprochen hatte, das ihn interessiert und mit dem er sich auskennt, begann er zu reden. Er redete, redete und redete und wollte gar nicht mehr aufhören. Na, kommt euch so etwas bekannt vor?

        Zweifellos war er froh, dass ich mich zu ihm gesellt hatte und auch ich war erleichtert, endlich ein interessantes Gespräch mit Tiefgang führen zu können.

        Wie erkennt man Introvertierte auf der Straße…also da kann ich jetzt nur für mich persönlich sprechen. Ich weiche Smalltalk so weit wie möglich aus. Natürlich besonders dann, wenn mein Energielevel schon so niedrig ist, dass ich mich nach Ruhe sehne, um meine inneren Akkus aufzuladen. Ich kann mich an Situationen erinnern, wo ich nach einem anstrengenden Arbeitstag Bekannte auf der Straße oder in der U – Bahn gesehen habe und mich absichtlich so platzierte, dass mich diese Bekannten keinesfalls sehen.

        Extrovertierte Menschen möchten nun glauben, dass ich mich arrogant (beliebte Bezeichnung für Introvertierte) verhalte. Aber das stimmt nicht. Ich bin weder arrogant noch unfreundlich, aber ich möchte mir den Smalltalk einfach nicht antun, der mir wahrscheinlich blüht, sollte der Bekannte mich sehen. In solchen Situationen bin ich einfach zu müde und ausgelaugt und hätte keine Kraft mehr für inhaltslose Gespräche. Also versuche ich mich dann und wann schon mal, mich „unsichtbar“ zu machen.

        Nun, liebe Jennifer, ich stimme völlig mit Dir überein, dass es schwierig ist, einen Beitrag zu schreiben mit dem Titel „Wie erkenne ich einen Introvertierten?“ Zumal ein solcher Artikel ja auch, oder in diesem Fall ganz besonders die Extrovertierten erreichen soll, um für mehr gegenseitige Akzeptanz und Verständnis zu sorgen. Ich denke, das Anführen von praktischen Alltagsbeispielen wäre da wieder eine gute Strategie. Und nach allem, was ich bis jetzt von Dir gelesen habe, traue ich Dir diesen Beitrag auch noch zu! 🙂

        Beste Grüße,
        Alex

  2. Hey Jennifer,

    hab gerade deinen ganzen Beitrag förmlich verschlungen 😀
    Klar ist natürlich, dass nicht alles 1 zu 1 auf jeden introvertierten übertragen werden kann, aber ich habe mich nichts desto trotz in allen Aspekten wieder erkannt. Auch ich würde gerne eine kleine Ergänzung vornehmen aus meinen eigenen Lebenserfahrungen.

    Nachdem ich mich als Teenie von meiner Freundin getrennt hatte war es recht schwierig Anschluss zu neuen Leuten zu finden. Da hatte ich mir versucht selber weiter zu helfen indem ich verschiedenste Bücher gelesen hatte, ebenfalls eines über Kommunikation und wie man smalltalk hält. Smalltalk halten kann geübt und gelernt werden, das hatte ich nach einiger Zeit (2 Jahre) auch recht gut drauf. Das blöde dabei war, nur im angetrunkenen bzw betrunkenen Zustand 😀
    Aber durch genau das entstanden Freundschaften die tiefer gehen als Partys und trinken. Doch gerade deshalb, dass man sich im betrunkenen Zustand kennengelernt hatte und danach schon eine Art Verbindung entstand, fiel es mir selber auch leichter mit meinen neuen Freunden ins Gespräch zu kommen. Das klingt erstmal recht gut, hat aber einen Haken. Viele Leute kennen nicht die genaue Art von interversion, sondern sehen introvertierte Menschen als Menschen, die auf Partys alleine irgendwo im Eck hocken und mit niemandem reden. Also nahm man an, ich sei extrovertiert.
    Mit den Jahren bin ich mit meiner jetzigen Freundin zusammengezogen, trinke sogut wie keinen Alkohol mehr und habe mein Leben recht gut im Griff. Meine Jungs sind aber immernoch auf dem „saufpfad“, wo ich einfach keine Lust darauf habe, weil es mir selber und meinem Körper keinen Mehrwert bietet und es im nüchternen Zustand einfach nur kräftezehrend ist, also sage ich in 90% der Fälle für solche Partys ab.
    Nun denkt jeder ich WERDE zu einem introvertierten, was mir selber in der Seele weh tut weil man sich nach und nach voneinander entfernt, obwohl ich sie schon als Familienmitglieder sehe.

    Lange rede kurzer Sinn, introvertierte Menschen können sich über Zeit bestimmte dinge wie smalltalk aneignen (weil wir sind nicht dumm) und werden dann als extrovertiert angesehen. Jedoch bleibt die Basis gleich. Glaub mir ich habe schon oft versucht ein extrovertierter mensch zu werden (ich weiß jetzt dass das nicht geht) was mit verdammt viel kraft und Stress verbunden ist, aber nach einiger Zeit fällt man wieder genau dort hin wo man angefangen hat.

    • Hi Max,

      danke, dass du deine Erfahrung teilst. Ich gebe dir recht (und Studien tun es übrigens auch): Extrovertierte Verhaltensweisen können wir zwar lernen, aber unsere introvertierte Grundeinstellung bleibt gleich. Deshalb ist es so schwierig, die richtige Balance zu finden. Dass du dir dessen bewusst bist, ist aber auf jeden Fall schon mal richtig wichtig!

      Liebe Grüße
      Jennifer

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