Immer wieder betonen Experten, Introvertierte selbst und auch sonst die meisten Menschen: Niemand ist 100 Prozent introvertiert. Denn Menschen profitieren (wenn auch in unterschiedlichem Maße) immer von sozialen Beziehungen.
Das gängige Missverständnis ist, dass alleine zu sein, eine Krankheit wäre, die es zu bekämpfen gilt. In Wahrheit ist es eine Kunst, auch mit sich selbst zufrieden zu sein. Manche kippen diese Aussage aber ein wenig zu weit und sagen: Man kann auch ohne andere Menschen.
Stark introvertiert: Was heißt das?
Hin und wieder lese ich von Personen, die sich als so introvertiert beschreiben, dass sie gar keine anderen Menschen brauchen. In Wahrheit ist allein das Verfassen solcher Aussagen schon eine Kommunikation, die das Gegenteil vermuten lässt. Doch es gibt auch echte Ensiedler, die wirklich mit niemandem zu tun haben.
Schnell fällt da die Wortkombination: stark introvertiert. Angeblich ist das Bedürfnis nach Ruhe bei diesen Menschen so stark, dass sie fast ohne soziale Beziehungen auskommen. Statt weniger guter Freunde, haben sie keine. Statt suboptimalen Beziehungen zu Kollegen, reden sie mit diesen nur, wenn sie absolut müssen. Statt Menschen als Bereicherung ansehen zu können, wollen sie nur weg von ihnen.
Extrem introvertiert: Gibt es das wirklich?
Zu welchen Teilen Introversion angeboren und zu welchen Teilen anerzogen ist, darüber gibt es noch keine verlässlichen Aussagen. Was jedoch durch die Bank festzustellen ist: Introversion lässt sich nicht wegreden oder abtrainieren. (Wer nicht weiß, was damit gemeint ist: Kann man extrovertiert werden?) Aber es bleibt dabei, dass Introversion jeden Aspekt des Lebens beeinflusst, sie jedoch nicht vollständig kontrolliert. Dass also jemand angeblich so introvertiert ist, dass er es mit Menschen gar nicht aushält, ist eher keine feste und unveränderbare Sache, sondern eine Wahl oder aber die Folge von anderen Eigenheiten (z.B. extreme Reizüberflutung bei Autismus).
Für das Diskutieren dieser Sache muss ich an dieser Stelle einmal die Spezifizierung vornehmen, die ich persönlich wähle. Sonst ergibt der nächste Teil wahrscheinlich keinen Sinn: Ich sehe Introversion als stabiles Persönlichkeitsmerkmal, das weitestgehend unabhängig von anderen mentalen Eigenheiten betrachtet wird (zum Wohle der Diskussion).
Schüchternheit, Angst und Menschenhass sind keine Merkmale von introvertierten Menschen
Wieder und wieder und wieder: Schüchternheit und Introversion sind nicht dasselbe. Es nervt, dass das noch immer ein so weit verbreiteter Irrglaube ist. Schüchternheit entsteht durch erwartete Ablehnung – die Zurückhaltung fühlt sich nicht natürlich an, sie ist auferzwungen.
Ängste und Sozialphobien sind auch von Introversion zu trennen. Genetische Komponenten, schlechte Erfahrungen, Traumata und Lebensumstände können dafür sorgen, dass andere Menschen Panik auslösen. Das ist nicht Introversion.
Menschenhass kann bei jedem entstehen, ob introvertiert oder extrovertiert ist genauso egal wie groß oder klein. Introvertierte hassen nicht von Natur aus. Sie ziehen sich nicht zurück, weil sie Menschen verachten, sie ziehen sich zurück, weil sie sie auf Dauer anstrengend finden – selbst bei guten Freunden oder bei Partnern kann das der Fall sein, obwohl hier Liebe und nicht Hass im Spiel ist.
(Hinweis: Ja, Introversion kann all diese Dinge bedingen, man kann also Argumente dafür finden, dass Introvertierte beispielsweise anfälliger für Schüchternheit sind. Diese Dinge gleichzusetzen, ist trotzdem Quatsch.)
Sehr introvertiert oder doch nicht?
Wenn mir jemand sagt, dass er extrem introvertiert ist, vermute ich, dass noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Oftmals ergibt sich sehr schnell, dass da doch ein unterschwelliger Menschenhass zu finden ist. Oder aber Schüchternheit, schlechte Erfahrungen und Ängste.
Typische Aussagen, die „verdächtig“ sind:
- Wenn ich vor Menschen sprechen soll, bekomme ich Panik.
- Ich kann nicht mit Fremden reden.
- Ich finde keine Freunde.
- Niemand mag mich.
Oftmals haben Menschen ein geringes Selbstbewusstsein und sobald sie das in den Griff bekommen, sind sie plötzlich deutlich sozialer. Unter Umständen waren sie nie introvertiert (Hinweis: Das KANN der Fall sein, MUSS es aber nicht). Introversion wird auch manchmal als „Ausrede“ genutzt, speziell von Menschen, die viel Ablehnung erfahren haben und somit keine Zugehörigkeit spüren. Zu sagen „Ich bin halt introvertiert“ kann einfacher sein, als sich mit der Realität auseinanderzusetzen.
Niemand ist zu 100 Prozent introvertiert
Manche Menschen sind introvertierter als andere. Das steht gar nicht zur Debatte. Wenn aber doch mal jemand behauptet, nah an die 100 Prozent Introversion zu gelangen, dann sollte zumindest die Frage erlaubt sein, ob Ängste, Schüchternheit oder auch psychologische Besonderheiten da nicht entscheidend hineinspielen.
Grundsätzlich darf auch gerne jeder die Diskussion darum, wie introvertiert man sein kann, für komplett unnötig erklären. Dafür gibt es durchaus gute Argumente. Trotzdem wollte ich dieses Thema ansprechen. Vielleicht findet der ein oder andere Leser hierher, der denkt, er sei ein besonders introvertiertes Menschenwesen, und reflektiert ein wenig, ob nicht auch erwartete Ablehnung, Traumata oder andere Faktoren dafür sorgen, dass sie sich so sehr auf eine Seite des Spektrums gedrängt fühlen.
Denn: Wer unglücklich mit seiner Rolle in der Gesellschaft ist, darf gerne versuchen, etwas zu verändern. Das ist vor allem dann erfolgsversprechend, wenn sich nicht auf die Introversion als „Problem“ versteift wird, sondern Dinge wie Selbstbewusstsein oder die Zusammensetzung des sozialen Umfelds genauer unter die Lupe genommen werden.
Ein tiefsinniger Beitrag, der zum Nachdenken und zur Selbstreflektion einlädt!