Um Probleme zu lösen, sollte man an der Wurzel anpacken. Für schüchterne Menschen bedeutet das, dass ihre Schüchternheit nicht einfach „überschrieben“ oder „weggezaubert“ werden kann. Eine schockierende Nachricht für alle Menschen, die ihr ganzes Leben schon hören, sie müssten doch nur mal etwas mehr aus sich herauskommen. So einfach ist es nicht?
Um mit Schüchternheit besser umzugehen oder sie sogar zu überwinden, muss erst einmal klar sein, welche Ursache(n) sie hat. Für jeden Menschen wird das anders aussehen. Somit wirst du hier auch keine Diagnose erhalten. Aber dieser Artikel kann dir möglicherweise einige Ansatzpunkte liefern, die dir helfen, deine Zurückhaltung besser zu verstehen.
Extreme Schüchternheit: Eine Sache für Experten
Zunächst einmal muss klar sein, um welche Form der Schüchternheit es gehen soll. Denn Schüchternheit kommt in vielen Intensitäten und Ausführungen daher. Im Folgenden geht es um leichte bis mittlere Schüchternheit. Also Menschen, die gerne etwas selbstbewusster wären, aber es irgendwie nicht schaffen. Menschen, die sich nicht so richtig durchsetzen können. Menschen, die gerne ein wenig verändern würden.
Das unterscheidet sich von extremer Schüchternheit. Diese ist meist nämlich schon eher eine echte Sozialphobie (auch: soziale Phobie). Weder dieser Artikel noch sonstige Internetinhalte sind in diesem Fall der richtige Weg. Angstzustände und schwere Einschränkungen im Alltag sind schwer zu verstehen und zu überwinden. Bitte suche dir professionelle Hilfe: Soziale Phobie besser verstehen.
Typische Ursachen für Schüchternheit
Schüchternheit ist im Wesentlichen eine Verhaltensänderung aufgrund von erwarteter Zurückweisung oder Ablehnung. Weil andere Menschen negativ reagieren könnten, schränkt man sich in seinen Aussagen, Handlungen oder sogar Denkweisen ein.
Einfach nur ruhiger zu sein, ist noch keine Schüchternheit. Wahrscheinlicher ist, dass hier Introversion vorliegt (Unterschied zwischen schüchtern und introvertiert). Gehen wir aber mal davon aus, dass du wirklich deine Lebensweise anpasst, um nicht negativ betrachtet zu werden – woher kommt die Schüchternheit?
Genetische Ursachen und Hirnforschung
Eine erste Ursache für Schüchternheit kann Genetik sein. Aber Achtung: In flott formulierten Überschriften oder halbgaren Social-Media-Posts wird gerne mal der Anschein erweckt, dass über Genetik alles erklärt werden kann. Das behaupten Forscher aber überhaupt nicht. Viele Experten glauben, dass es unzählige genetische Besonderheiten gibt, die Schüchternheit bedingen – und einige Menschen weisen nun mal mehr dieser Besonderheiten auf als andere – interessant dazu: The science behind why some of us are shy.
Was ebenfalls wiederholt betrachtet wurde, sind gewisse Voraussetzungen, die Schüchternheit wahrscheinlicher machen. So wurde untersucht, wie die Gehirne gehemmter Personen auf neue Reize reagieren. Dabei fand man heraus, dass gehemmte Menschen eine höhere Aktivität im Mandelkern aufweisen – sie gewöhnen sich also langsamer an neue Reize wie Personen, unbekannte Umgebungen oder veränderte Lebensumstände. Wie viel davon durch frühkindliche Erfahrungen bedingt wird und was von Geburt an zu erwarten wäre, ist nicht genau zu bestimmen.
Trotzdem gehören die körperlichen Ursachen von Schüchternheit unbedingt auf diese Liste. Denn daraus ergibt sich unter anderem, dass zwei Menschen mit exakt denselben Erfahrungen und derselben Lebenssituation trotzdem völlig unterschiedlich auftreten können. Die Folge dessen ist wiederum, dass nicht alle Menschen gleich gut auf Tipps und Übungen reagieren. Eine Lösung für alle gibt es also nicht.
Erfahrungen im Kindesalter
Was du als Kind erlebst, prägt dein ganzes Leben. Für einige Menschen ist das großartig: Sie bekommen durch Erziehung und positive Erfahrungen in jungen Jahren viele wichtige Kompetenzen mit. Selbstbewusstsein, Empathie, Stressresistenz, Optimismus – noch bevor wir die Welt richtig verstehen, kann uns die Angst vor ihr genommen werden.
Leider gibt es aber auch die andere Richtung. Negative Erfahrungen und suboptimale Erziehung führen dazu, dass die Welt überfordernd wirkt. Die Erziehung kann direkt und indirekt eine Rolle spielen. Sind die Eltern immer enttäuscht, wenn ein Kind einen Fehler macht, entsteht Angst vor Fehlern. Eine ziemlich direkte Art, einem Kind das Selbstbewusstsein zu nehmen.
Aber nicht immer ist es so offensichtlich. Verhalten sich Eltern ängstlich und zurückhaltend, können Kinder dies übernehmen. Nicht bewusst oder absichtlich, einfach, weil das ihr erster wichtiger Orientierungspunkt im Leben ist.
In der Erziehung können also grundsätzlich Ursachen für schüchternes Verhalten vermutet werden. Vermutet. Denn manchmal kann bei der Erziehung viel richtig gemacht werden, aber der Rest der Welt kennt keine Gnade. Mobbing gibt es schon im Kindergarten. Eine zu wettkampforientierte Umgebung bei Hobbys oder in der Schule kann sensiblere Kinder überfordern. Zerbrochene oder fehlende Freundschaften sind eine Belastung mit weitreichenden Folgen. Je früher und heftiger Kinder und Jugendliche auf Ablehnung stoßen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie lernen, Ablehnung überall und jederzeit zu erwarten.
Erfahrungen im Erwachsenenalter
Zwischen genetischen Grundvoraussetzungen und Erfahrungen im Kindesalter entsteht Schüchternheit am häufigsten. In seltenen Fällen können aber auch spätere Erfahrungen schüchternes Verhalten kreieren.
Mobbing am Arbeitsplatz, negative Erfahrungen in romantischen Beziehungen, traumatische Erlebnisse und generelle Überforderung mit sozialen Situationen können auch mit 20, 30 oder 70 Jahren noch dafür sorgen, dass jemand sein Verhalten ändert und sich unwohl fühlt.
Was geht im Kopf einer schüchternen Person vor?
Neben der Frage danach, wann und wie Schüchternheit entstanden ist, kannst du dich auch fragen, warum genau sich soziale und neue Situationen so unangenehm anfühlen können. Um schüchterne Menschen zu verstehen, sind beide Schritte wichtig.
Die Angst, nicht gut genug zu sein
Es gibt für fast alle Tätigkeiten und Eigenschaften Standards, die man erreichen sollte. Noten in der Schule, Anzahl der Freunde, Aussehen, Einkommen, sozialer Status – wenn es in der Gesellschaft oder in einem sozialen Kreis relevant ist, wird es auch gemessen und verglichen. Schüchterne Menschen gehen ständig davon aus, die Standards nicht zu erreichen.
Sie sehen andere Menschen oft in einem positiven Licht. Diese Personen sind selbstbewusster, schöner, talentierter oder erfolgreicher. Sich selbst bewerten sie kritischer. Sie seien zu leise, zu laut, zu dumm oder zu faul. Wer sich ständig selbst hohe Standards setzt, wird sich selbst auch ständig enttäuschen. Folgt daraus die Annahme, dass andere Menschen auch enttäuscht sind oder wären, verstellt man sich oder zieht sich zurück. Ein Teufelskreis entsteht.
Die Angst vor der Ablehnung anderer Menschen
Die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit muss nicht immer auf andere übertragen werden. Manche schüchternen Menschen sind sich sogar bewusst, dass sie zu hart mit sich ins Gericht gehen. Sie haben Freunde, Verwandte und Kollegen, die sie schätzen. Trotzdem bleiben sie in vielen Situationen schüchtern.
Menschliche Gehirne sind nicht gut darin, zwischen tatsächlichen und erwarteten Erfahrungen zu unterscheiden. So heißt es: Vorfreude ist die schönste Freude. Warum? Weil schon die Erwartung an ein positives Ereignis uns glücklich macht. Deshalb kann auch die mögliche Ablehnung durch andere genauso belastend sein wie die tatsächliche Ablehnung.
In sozialen Situationen (besonders in unbekannten) kann es immer mal sein, dass du von jemandem nicht gemocht wirst. Dass du etwas Falsches sagst. Dass dein Verhalten komisch wirkt. Es ist also niemals ausgeschlossen, dass dich jemand auslacht, auf dich herabschaut oder sogar Streit anfängt. Möglich ist außerdem, dass jemand nicht deutlich zeigt, dass er dich nicht mag, es aber insgeheim denkt. Und solange die Chance besteht, dass du abgelehnt wirst, versuchst du krampfhaft, nichts falsch zu machen. Das kann niemals garantiert werden – aber weniger zu sagen und nicht aufzufallen, ist für schüchterne Menschen nun mal oft der „logische“ Weg.
Tatsächliche Schwächen und die Folgen
Schüchternheit kann auch situativ auftreten. Die Ursache ist dann meist eine tatsächliche Schwäche. Jemand kann sich gegenüber Fremden schüchtern verhalten, weil er nun mal eine Niete in Smalltalk ist. In der Schule kann Schüchternheit auftreten, weil ein bestimmtes Fach große Probleme bereitet. In einer romantischen Beziehung kann ein Partner berechtigte Kritik äußern – wenn man sich nicht ändern kann oder will, ist Rückzug oft typisch.
Bei der erwarteten Ablehnung handelt es sich oft um eine verzerrte Wahrnehmung – weil früher mal Ablehnung geäußert wurde, wird sie wieder erwartet. Mit Übung können Schüchterne lernen, nicht von allen Menschen dieselben Reaktionen zu erwarten. Das ist natürlich schwieriger, wenn nachweislich ein „Problem“ vorliegt. Sprachprobleme, äußerliche Besonderheiten (die durch die Gesellschaft als schlecht angesehen werden), Überforderung, Leistungsdefizite – manchmal mögen wir und andere an uns etwas nicht, was nur schwer zu ändern ist. Wer mit einer solchen Situation täglich zu kämpfen hat, kann ebenfalls Zurückhaltung als „Lösung“ wählen. Fällt man weniger auf, fallen auch die Schwächen weniger auf.
Gründe für Schüchternheit bedingen Lösungen für Schüchternheit
Je mehr du darüber weißt, was deine Schüchternheit verursacht, umso größer sind die Chancen, sie auch zu überwinden. Leider liegt fast immer eine Kombination aus verschiedenen Ursachen vor. Kindliche Erfahrungen können mit tatsächlichen Defiziten bei der Arbeitsleistung einhergehen – Selbstbewusstsein im Beruf ist da schwer zu kreieren. Von Natur aus sensibler auf Reize zu reagieren und dann in der Schule eine starke Konkurrenzsituation zu erfahren, fördert das Gefühl, nicht gut genug oder zu „anders“ zu sein.
Obwohl dies kein Artikel mit Tipps für mehr Selbstbewusstsein ist, soll doch eine Empfehlung ausgesprochen werden: Aufschreiben hilft! Ein so banaler Tipp sollte eigentlich nicht für viele Menschen sinnvoll sein. Doch er ist es. Denn im Trubel des Alltags und der Erfahrungen ist es oft unmöglich, das eigene Verhalten klar zu sehen.
So kannst du dein Verhalten auf Schüchternheit untersuchen:
- Schreibe auf, wann du zitterst, schwitzt oder Fluchtgedanken hast – notiere, was der Auslöser war oder sein könnte.
- Führe mit Familienmitgliedern und langjährigen Freunden Gespräche darüber, wie du früher warst – notiere, wie sich dein Verhalten über die Jahre verändert hat.
- Erlebst du einen Moment, in dem die Schüchternheit plötzlich verflogen war, dann notiere, was sich gut und richtig angefühlt hat.
- Hast du erwartet, dass dich jemand nicht mag, mit dem du dann doch gut klarkommst, dann notiere dir, dass du offenbar keinen klaren Blick auf diesen Menschen hattest.
- Behandelt dich jemand von oben herab oder unfair, dann notiere dir, dass diese Person sich schlecht verhält und das nicht deine Schuld ist.
Diese Notizen werden aus einem extrem schüchternen Erwachsenen jetzt keinen Ego-Kraftprotz mit Weltherrschaftsambitionen machen. Aber jemand, der Ursachenforschung betreibt, wird immer Vorteile gegenüber jemandem haben, der seine Situation als gegeben und unveränderbar beschreibt.
Fazit: Ursachenforschung kann Überwinden ermöglichen
Die gute Nachricht ist, dass dir, mir und allen anderen Menschen immer mehr Informationen zur Verfügung stehen. Erfahrungsberichte anderer Schüchterner, Tipps und Tricks, Podcasts und Texte über die Stärken ruhigerer Menschen können Halt bieten. Von heute auf morgen wirst du dich und deine schüchterne Art nicht total durchblicken können. Aber mit der Zeit kannst du mehr und mehr verstehen und dann schauen, ob und was du verändern möchtest. Viel Erfolg!