Schüchternheit gilt in der modernen Gesellschaft als großes Manko. Als diese nervige Sache, die man doch bitte zu überwinden hat, wenn man es im Leben zu etwas bringen möchte. Aber ist es wirklich so schlimm, wenn eines der Persönlichkeitsmerkmale „schüchtern“ ist?
Indem wir den Blickwinkel ein wenig verändern, können viele der Eigenschaften schüchterner Menschen auch ziemlich interessant und sogar vorteilhaft sein. Das heißt nicht, dass Schüchternheit nun gefeiert werden muss – es ist in Ordnung, wenn du selbst gerne weniger schüchtern wärst oder einer Person helfen willst, die mit Schüchternheit zu kämpfen hat.
Im Folgenden wird einfach nur darauf geschaut, was als typisch schüchtern gilt – und ob die negativen Wahrnehmungen nicht manchmal etwas über das Ziel hinausschießen.
Charaktereigenschaften von schüchternen Menschen
Hier folgt nun die praktische Übersicht der typischen Eigenschaften, gefolgt von den Erklärungen. Wie du sehen wirst, ist das alles relativ zu betrachten. Anschließend wird sogar darüber diskutiert, ob Schüchternheit überhaupt eine Schwäche ist oder nicht.
Typische Eigenschaften schüchterner Menschen:
- Wortkarg
- Aufmerksam
- Zurückhaltend
- Zuverlässig
- Unsicher
- Interessant
- Blauäugig
- Selbstkritisch
- Konfliktscheu
- Harmoniebedürftig
- Beklommen
- Hilfsbereit
- Facettenreich
Diese Liste ist natürlich nicht vollständig oder perfekt. Außerdem muss immer zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung unterschieden werden. Einige dieser Eigenschaften werden schüchternen Personen von außen zugeschrieben, obwohl sie es selbst nicht so wahrnehmen. Es gibt auch schüchterne Menschen, die einige dieser Charaktereigenschaften besitzen, sie aber so gut verstecken, dass andere diese Beschreibungen nicht für sie nutzen würden.
Wortkarg
Eine sehr typische (und vielleicht sogar die bekannteste) Eigenschaft von schüchternen Menschen ist, dass sie wortkarger sind. Sie sagen weniger oder sprechen überhaupt nicht. Wenn sie den Mund aufmachen, dann fehlt es oft an Überzeugung und Durchsetzungsvermögen.
Für viele schüchterne Menschen gilt das hauptsächlich in unübersichtlichen Situationen oder in Gesprächen mit Fremden. Unter Freunden können sie weniger schüchtern wirken. Sind sie Experte auf einem Gebiet, kann die Schüchternheit ebenfalls kaum auffallen.
Aufmerksam
Wo nicht geredet wird, bleibt mehr Zeit zum Zuhören. Da schüchterne Personen oftmals nicht den Mut oder die Überzeugung finden, um sich an einem Gespräch zu beteiligen, hören sie stattdessen zu. Das kann viele Vorteile haben. Meist fallen schüchternen Menschen viele Details auf.
Außerdem umgehen sie ein typisches Problem, das bei (einigen) extrovertierten und forschen Menschen auftritt. Wenn diese ein Gespräch führen, warten sie oftmals nur darauf, wann sie das nächste Mal etwas sagen können. Die Meinungen der anderen Personen sind zweit- oder drittrangig. Schüchternen Menschen passiert dies selten.
Zurückhaltend
Der Mittelpunkt ist kein schöner Platz für schüchterne Menschen. Je mehr Aufmerksamkeit auf ihnen liegt, umso nervöser werden sie. Durch eine unbekannte Umgebung, fremde Menschen oder sonstige Stressfaktoren kann das noch verschlimmert werden. Somit drängen sich Schüchterne nicht ins Rampenlicht. Selbst dann nicht, wenn sie es verdient hätten.
Zuverlässig
Wer nicht ständig darüber nachdenkt, wie er zur Hauptattraktion werden kann, setzt eher auf Leistung. Für schüchterne Menschen heißt das, dass sie zuverlässig und engagiert arbeiten. Sei es in einer Freundschaft, einem Job oder einer romantischen Beziehung. Manchmal führt das sogar dazu, dass sich die timiden Charaktere extrem über ihre Leistung definieren.
Unsicher
Unsicherheit ist ein Grundbaustein der Schüchternheit. Denn schüchterne Menschen rechnen ständig mit Ablehnung – und finden sie manchmal sogar dort, wo es sie gar nicht geben sollte. Somit überdenken sie ihre Entscheidungen, Handlungen und sogar Gedanken wieder und wieder.
Diese Unsicherheit ist sehr oft auch von außen erkennbar. Die Körperhaltung ist angespannt, es wird leiser gesprochen und viel relativiert. Viele schüchterne Menschen stören sich sehr an ihrer Unsicherheit.
Interessant
Manche Menschen sind in allen Situationen schüchtern. Das ist aber eher die Ausnahme. Viele können unter Freunden oder online auch ein wenig Schüchternheit ablegen. Zum Vorschein kommt dann eine sehr interessante Persönlichkeit. Deshalb werden schüchterne Menschen auch oft von ihren Mitmenschen geschätzt.
Blauäugig
Typisch für schüchterne Menschen ist ein etwas naiver Blick auf die Umwelt. Gerade die Mitmenschen unterliegen einer Verzerrung. Bei allen anderen werden die Vorteile und Stärken gesehen. Der Charakter anderer Personen wird also oftmals überschätzt. Oder es sieht aus, als ginge es allen besser. Als wären ihre Leben viel einfacher.
Das verstärkt die Schüchternheit enorm. Denn im Umkehrschluss wird an sich selbst gezweifelt – warum ist man nicht auch so gut, so schön, so stark, so schlau, so selbstsicher …?
Selbstkritisch
Andere Menschen werden überschätzt, während man bei sich selbst extrem hohe Standards ansetzt – das kann nicht gutgehen. Betroffen sind davon zwar nicht nur Schüchterne, aber es ist doch sehr typisch. Wenn jemand einen Fehler beim Sprechen macht, ist das ein witziger Zwischenfall, der ohne Folgen bleibt. Wenn man selbst einen Fehler beim Sprechen macht, ist das eine Schwäche, eine Katastrophe und ein Zeichen, dass man nicht gut genug ist. Schüchterne Menschen gehen oftmals viel härter mit sich selbst ins Gericht als mit anderen.
Konfliktscheu
Konflikte sind Gift für jemanden, der ohnehin schon erwartet, nicht gehört oder geschätzt zu werden. Daher meiden schüchterne Persönlichkeiten Auseinandersetzungen meist bewusst oder unbewusst. Sie bleiben still, obwohl sie eine andere Meinung haben. Sie wehren sich nicht, wenn sich jemand im Ton vergreift. Schon gar nicht starten sie eine Diskussion, von der sie vorher wissen, dass sie hitzig werden könnte.
Harmoniebedürftig
Konflikte sind manchmal notwendig. Aber häufig eben auch nicht. Schüchterne Menschen können oftmals gute Vermittler sein, wenn es Probleme gibt. Denn sie wollen möglichst zu einer Situation zurückkehren, in der weniger Stress herrscht.
Somit ist Harmoniebedürftigkeit manchmal auch ein Vorteil. Wenn viele Leute einen Streit befeuern, versuchen Schüchterne, die Flammen zu löschen. Meist betrachten sie dabei alle Seiten und versuchen einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Beklommen
Speziell selbstbewusste und überhaupt nicht schüchterne Menschen haben oftmals wenig Verständnis für Zurückhaltung oder gar Angst. Sie verstehen einfach nicht, warum manche Leute so viel nachdenken oder so sensibel reagieren. Eine Antwort: Die Körper schüchterner Menschen zeigen physische Reaktionen.
Zittern, zusammenzucken, weinen oder fluchen – all das passiert einfach, wenn schüchterne Menschen unter Stress stehen. Das sucht sich ja niemand aus. Somit sind auch einfache „Lösungen“ a la „Hab dich mal nicht so“ oder „Iss mehr Protein“ auch völlig sinnlos.
Hilfsbereit
Unter der eigenen Schüchternheit zu leiden, heißt meist auch, Empathie für andere in einer ähnlichen Situation zu entwickeln. Schüchterne Menschen bemerken meist eher, wenn es jemandem nicht gut geht. Da sie sich oft nicht gesehen fühlen, sind sie sogar begeistert, wenn jemand um ihre Hilfe bittet. Die Rolle als (tatsächlicher oder wahrgenommener) Außenseiter ist zwar belastend, aber dadurch bilden sich auch gewisse Fähigkeiten aus, die anderen vielleicht fehlen.
Facettenreich
Empathische, hochsensible und introvertierte Menschen scheinen zwar häufiger von Schüchternheit betroffen zu sein, aber niemand ist einfach nur oder von Natur aus schüchtern. Stattdessen ist jeder schüchterne Mensch facettenreich und komplex. Somit ist das starke Fokussieren auf diesen einen Charakterzug auch oftmals nicht hilfreich. Die hier beschriebenen Eigenschaften sind nur der Anfang. Schüchterne Menschen können auch klug, einfallsreich, kreativ, erfolgreich und freundlich sein. Niemand sollte nur auf die schüchterne Art reduziert werden.
Ist Schüchternheit eigentlich eine Schwäche?
Die allermeisten schüchternen und die allermeisten nicht schüchternen Menschen sind sich einig: Schüchtern zu sein, ist nicht gut. Doch an dieser Idee lässt sich auch ganz gut rütteln. Denn wie die Liste der Charaktereigenschaften schon gezeigt hat, können schüchterne Menschen auch eher positive Eigenschaften mitbringen.
Ob Schüchternheit eine Schwäche ist, hängt vom Umgang mit ihr ab. Wer sich in der schüchternen Art verliert und dadurch seine Ziele und Träume nicht verfolgt, ja, der ist im Nachteil. Doch generell etwas ruhiger zu sein, sich nicht jedem zu öffnen und Zurückhaltung zu leben, ist manchmal sogar eine Stärke.
Auch der Grad der Schüchternheit spielt eine Rolle. Handelt es sich schon eher um eine Sozialphobie, dann kann nicht von einer Stärke gesprochen werden. Stark von Angst gehemmte Menschen leiden unter diesem Zustand. Aber es gibt auch Personen, die nur in bestimmten Situationen schüchtern sind. Sie öffnen sich seltener – dadurch fallen sie aber auch nicht auf Schauspieler herein und wollen auch nicht jedermanns Freund sein. Das verleiht Charakter.
In den meisten Situationen schadet Schüchternheit auch niemand anderem. Das ist nicht zu vergessen. Denn Eigenschaften wie Rücksichtslosigkeit, Boshaftigkeit oder Unverschämtheit sind tatsächlich problematisch. Mit diesen Dingen sollte sich sehr kritisch auseinandergesetzt werden. Schüchternheit ist im Normalfall nicht das Ende der Welt und auch keine große Belastung für die Umwelt. Und ironischerweise sind es meist eher die rücksichtslosen, forschen und übermütigen Menschen, die den Schüchternen noch zusätzliche Komplexe einreden wollen.
Fazit: Ein schüchterner Charakter macht noch keinen Menschen
Wie mit den meisten Charakterbeschreibungen ist es auch bei der Schüchternheit so, dass wir dringend auf die Bremse treten müssen. Menschen sind einfach viel zu komplex, um sie mit einem Wort oder wenigen Begriffen zu beschreiben. Gleichzeitig ist es typisch Mensch, dass wir es versuchen. Wenn du eine schüchterne Person kennst, befasse dich mit all ihren Facetten, nicht nur mit der zurückhaltenden Art. Und bist du eine schüchterne Person, dann denk daran, dass du mehr bist als nur schüchtern.