Es kommt in letzter Zeit wieder häufiger vor, dass ich introvertierte Erleichterung entdecke. Das ist so keine gängige Formulierung, aber ich dachte, man könnte sie ganz gut nutzen, um zu beschreiben, was wir Introvertierten früher oder später (fast) alle einmal erleben.
Für jeden sieht dieses Phänomen ein wenig anders aus, aber trotzdem scheint es eine gewisse Allgemeingültigkeit zu besitzen. Letztlich ist die Erleichterung auch der Grund für die Existenz dieses Blogs – deshalb erwähne ich das Thema auch nicht zum ersten Mal.
Was ist die introvertierte Erleichterung?
Als introvertierte Erleichterung wird das bezeichnet, was Introvertierte spüren, wenn sie zum ersten Mal realisieren, dass mit ihnen alles in Ordnung ist – zumindest im Bezug auf ihre Bedürfnisse. Denn wie schon oft erwähnt wurde: Introvertierte bekommen von der Gesellschaft oft vermittelt, sie wären fehlerhaft.
Findet jemand dann einen Artikel, ein Buch, ein Video, einen Podcast oder auch einen echten Menschen, der vermittelt „Hey, du bist nicht komisch, es geht vielen so, das nennt man Introversion“, dann fällt ein riesiger Stein von den Herzen der meisten Intros.
Wie kommt es dazu, dass Introvertierte plötzlich tief durchatmen können?
Jeder lernt auf eine andere Art, was Introversion ist. Manche Menschen wissen von sich, dass sie ruhiger oder weniger sozial sind, können dies aber nicht benennen. Andere kennen den Begriff, geben aber nicht zu, selbst introvertiert zu sein. Wieder andere haben ihr ganzes Leben lang gehört, dass sie sich doch mal nicht so anstellen sollen und kennen weder Verständnis noch das Konzept Introversion, bis ihnen plötzlich die Augen geöffnet werden.
Typische Wege, wie Introvertierte sich selbst erkennen:
- Sie begegnen jemandem, der ebenfalls introvertiert ist und der sie versteht.
- Sie lesen ein Buch, zum Beispiel „Still“ von Susan Cain.
- Sie landen auf Wanderlust Introvert.
- Sie sehen einen YouTuber, der über Introversion spricht.
- Sie studieren im Bereich der Psychologie und kommen so mit Carl Jung in Kontakt.
Das Tragische dabei ist, dass viele Introvertierte keine dieser Situationen erleben werden. Stattdessen glauben sie weiterhin, Schüchternheit und Introversion wären dasselbe, sie müssten sich nur mehr anstrengen oder dass sie einfach nicht gut genug sind, um mit den Extrovertierten mitzuhalten (hier sind 18 nervige Vorurteile).
Wie fühlt sich introvertierte Erleichterung an?
Für mich persönlich gab es zunächst Zufriedenheit. Ein richtiges Haha-Ich-Bin-Doch-Nicht-Blöde! (Gefolgt von vielen Erkenntnissen dazu, dass ich doch blöde bin, das aber nichts mit Introversion zu tun hat). Aber anschließend folgte auch Wut. Wut darüber, dass ich erst mit Anfang 20 verstand, was mich schon mein ganzes Leben lang prägte.
Eine weitere Reaktion, die ich persönlich beobachten darf, ist Dankbarkeit. Menschen bedanken sich bei Blog-Autoren, Foren-Mitgliedern oder YouTubern dafür, dass sie nun endlich verstehen, warum sie so sind, wie sie sind.
Wieder andere werden aktiv. Sie wollen sich mit anderen Introvertierten über ihre Erfahrungen austauschen oder schreiben sogar Beiträge über ihre Erfahrungen. Auch in persönlichen Gesprächen erzählen sie oft ganz begeistert davon, was sie herausgefunden haben – all das ist wichtige Aufklärungsarbeit und ein toller Nebeneffekt der gefühlten Erleichterung.
Manchmal driften Introvertierte auch ein wenig ab. Weil sie selbst jetzt so viel mehr über sich verstehen, denken sie, alle anderen Introvertierten wären genau gleich. Das ist natürlich auch ein Trugschluss, der sich mit der Zeit aufklärt. Nicht alle Introvertierten hassen Menschen (einige aber schon), nicht alle Introvertierten lesen gerne (einige aber schon) und einige introvertierte Menschen mögen sogar Partys, Konzerte oder Telefonate (einige aber nicht).
Warum ich über introvertierte Erleichterung schreibe
Wie eingangs erwähnt, fallen mir die dankbaren und erleichterten Introvertierten aktuell wieder vermehrt auf. Vielleicht auch, weil ich zuletzt keine Zeit hatte, den Blog zu pflegen. Wenn ich es dann doch schaffe, Kommentare zu lesen oder auf dem Discord-Server vorbeizuschauen, ist es umso schöner zu sehen, dass Introvertierte einander mehr und mehr zur Seite stehen.
(Die Kommentarfunktion ist offen, schreibt gerne, wie es für euch war, als ihr erstmals verstanden habt, dass ihr introvertiert seid.)
Stimmt, solche Momente gab und gibt es immer wieder. Mit diesem Begriff geht bei mir noch eine weitere Assoziation im Kopf los: meine introvertierte Erleichterung über die Ruhe nach einer vollen Bahnfahrt, einem lauten Menschenabend, dem Rückzug aus einem komplizierten Freundschaftsverhältnis, der Lösung eines emotionalen „Problems“ bei Mitmenschen. Endlich mal durchatmen und Anspannung loslassen, die mir oft gar nicht bewusst war. Solche Aha-Momente werfen dann doch ein klares Licht auf die eigenen introvertierten Bedürfnisse.
Oh ja, das sind typische Momente. Man lernt nie aus – auch nicht, was die eigenen Bedürfnisse angeht.
Liebe Grüße