Introvertiert oder schüchtern: 5 wichtige Unterschiede

Introvertierte Menschen müssen nur mal mehr aus sich herauskommen und nicht so unsicher sein – das ist eine ziemlich weit verbreitete Meinung. Das Problem ist, dass Introversion dadurch als ein Defizit definiert wird, als eine Belastung für die Person und ihre Umwelt.

Doch introvertierte Menschen können ganz ohne Hemmungen durch das Leben gehen und glücklich sein. Also woher kommt die Idee, sie müssten sich ändern? Von der Tendenz Schüchternheit und Introvertiertheit gleichzusetzen. Schüchterne Menschen sind gehemmt – also können sie durch mehr Selbstbewusstsein auch offener und sozialer werden. Also warum klappt das nicht auch für Introvertierte? Ist doch dasselbe! Oder nicht?

Deshalb werden introvertiert und schüchtern oft verwechselt

Obwohl ich extrem allergisch darauf reagiere, wenn schüchtern und introvertiert in einen Topf geworfen werden, kann ich nur bedingt böse sein. Denn aktuell sind die Voraussetzungen für diesen Denkfehler ideal. In Wörterbüchern gelten introvertiert und schüchtern meist als Synonyme. In der Schule fehlt die Aufklärung über Persönlichkeitstypen.

Hinzu kommt, dass beide Besonderheiten von außen ähnlich aussehen. Da ist jemand ruhiger, zurückhaltender und scheint sich nicht auf die gleiche Art zu beteiligen und wohlzufühlen wie alle anderen – ob es sich dabei um Unsicherheit handelt oder nicht, ist schwer zu erkennen. Aber nicht nur das: Auch für Betroffene selbst ist das oft ein Rätsel. Wer sich nicht wirklich wohl in seiner Haut fühlt, weiß gar nicht genau, ob er introvertiert ist oder schüchtern – oder beides.

Somit ist die Diskussion um die Unterscheidung nicht überraschend. Die gute Nachricht ist, dass mehr und mehr Introvertierte ihre Eigenarten zu schätzen wissen und dadurch erkennen, ob sie nun einfach anders ticken oder zusätzlich auch noch schüchtern sind. Und viele Schüchterne können sich Selbstbewusstsein aneignen und dann lernen, dass sie eigentlich nie introvertiert waren. Aufklärung wirkt!

schüchtern introvertiert unterschied erkennen

So unterschiedlich ticken Introvertierte und Schüchterne

All diese praktischen Beispiele gehen davon aus, dass introvertierte Menschen sich ihrer Introversion bewusst sind und eher selbstbewusst mit ihr umgehen. Sie respektieren ihre eigenen Bedürfnisse und wissen um ihre Besonderheiten. Das heißt nicht, dass sie keine Schwächen hätten oder nie verunsichert wären. Aber in Bezug auf ihre introvertierten Eigenheiten, fühlen sie sich wohl.

Introvertierte genießen Ruhe, Schüchterne fürchten sie

Stille ist für introvertierte Menschen ein Segen. Natürlich wollen auch sie mal unter Menschen gehen und Gespräche führen. Doch die Zeit zwischen Gesprächsbeiträgen, Aktivitäten oder sozialen Erfahrungen genießen sie sehr. Für schüchterne Menschen kann Stille aber ein echtes Problem sein. Denn wenn sie in ihrer Umwelt ständig Ablehnung oder negatives Feedback erwarten, glauben sie auch, dass Stille negativ ist.

Schüchterne Menschen können nicht wirklich „abschalten“, wenn sie von Menschen umgeben sind. Sie sind sich ihrer Position im Raum, ihres sozialen Status und den sozialen Ansprüchen stets bewusst und wollen alles richtig machen. Introvertierte Menschen erleben das natürlich auch bis zu einem gewissen Punkt – aber eben nicht in diesem Ausmaß.

Praktisches Beispiel: Eine introvertierte Person und eine schüchterne Person verbringen den Tag mit ihren Freunden in einem Freizeitpark. Nicht immer wollen alle Freunde alle Aktivitäten mitmachen. Also bleiben die schüchterne und die introvertierte Person einmal zusammen vor einer Achterbahn stehen und müssen warten. Für die introvertierte Person ist dies eine willkommene Abwechslung, um mal durchzuatmen. Die schüchterne Person wird überlegen, ob es komisch ist, nichts zu sagen. Die Stille ist eine Belastung. Die Gedanken rasen. Anstatt aber einfach Smalltalk zu machen, zerdenkt die schüchterne Person die Situation.

Introvertierte reden freiwillig weniger, Schüchterne können nicht anders

Die allermeisten Introvertierten haben ein Problem mit Smalltalk. Denn er ist ziemlich inhaltsleer. Also tragen sie auch am liebsten zu tiefgründigen Gesprächen bei. Aus Prinzip etwas zu sagen, ist zwar manchmal notwendig, liegt ihnen aber nicht. Weniger zu sagen, ist also eine freie Entscheidung.

Schüchterne Menschen würden sich durchaus gerne mehr an Gesprächen beteiligen. Doch ihre Unsicherheit steht ihnen im Weg. Sie haben Angst, das Falsche zu sagen. Oder komisch zu sprechen. Auf Ablehnung zu stoßen. Weil sie aber gerne mehr beitragen würden, ist es belastend, dass sie es nicht können.

Praktisches Beispiel: Jemand fragt in einer Gruppe, welche TV-Serie aktuell die beste ist, die es gibt. Ein introvertierter Mensch, der nicht wirklich gerne Serien guckt, erkennt schnell, dass das nicht unbedingt die Diskussion für ihn ist. Also bleibt er still und hört zu – oder lässt die Gedanken driften. Ein schüchterner Mensch, der Serien liebt, will unbedingt etwas sagen. Doch was ist, wenn die anderen die Serie doof finden? Wie viel Ahnung hat man eigentlich? Würden die anderen lachen, wenn man nicht die richtige Serie nennt? Am Ende spricht weder der introvertierte noch der schüchterne Mensch, aber nur einer von beiden leidet unter der Situation.

bin ich schüchtern oder introvertiert

Introvertierte müssen Energie tanken, Schüchterne müssen dies nicht

Ein wichtiges Merkmal introvertierter Persönlichkeiten ist, dass sie Energie auftanken müssen. In sozialen Situationen verlieren sie Kraft (unterschiedlich stark, dies hängt unter anderem von den Sozialkontakten ab) und wenn sie allein sind, tanken sie die Kraft wieder auf. Ruhe ist für ihr Wohlbefinden unglaublich wichtig.

Schüchternen Menschen kann es ähnlich gehen – muss es aber nicht. Sie ziehen sich eher zurück, um soziale Ablehnung zu vermeiden. Denn wer allein ist, wird auch nicht belächelt, von oben herab behandelt oder beleidigt. Aber in diesen Ruhephasen wird deshalb nicht unbedingt Energie getankt, es wird nur nicht aktiv welche verloren. Das fühlt sich wahrscheinlich sehr ähnlich an, weshalb daran auch schwerer zu erkennen ist, wer schüchtern und wer introvertiert ist.

Praktisches Beispiel: Nach einem Treffen mit der Familie sind zwei Geschwister auf dem Weg nach Hause. Der introvertierte Bruder freut sich schon, dass es im Auto nicht mehr so unübersichtlich und laut ist. Zu Hause in seinem Zimmer zu verschwinden, klingt wunderbar. Die schüchterne Schwester ist froh, jetzt nicht mehr ständig darauf achten zu müssen, wie sie wohl wirkt. Auch für sie ist die Situation im Auto also ruhiger. Aber lieber wäre ihr, sie hätte lauter gesprochen, mehr gesagt oder sich besser präsentiert – auch das hätte ihr Freude bereitet. Sie muss nicht nach Hause, um Energie zu tanken, sie fährt nach Hause, weil das jetzt nun mal ansteht und sie ist nur froh, dass sie jetzt nichts mehr falsch machen kann.

Introvertierte beobachten ihre Umwelt, Schüchterne beobachten sich selbst

Introvertierte Menschen wollen schon wissen, welche Rolle sie in einer sozialen Situation einnehmen. Das ist „typisch Mensch“, ob introvertiert, extrovertiert, groß, klein, jung oder alt. Aber meist wechseln sie schnell dazu über, ihre Umwelt zu beobachten. Schüchterne Menschen schaffen es kaum, sich nur auf ihre Umgebung und die Menschen darin zu fokussieren – denn ihre eigene Rolle wird immer wieder hinterfragt.

Die Beobachterrolle liegt vielen Introvertierten. Sie fühlen sich wohler, wenn sie verstehen, wo sie sind und was die Beziehungen der Menschen ausmacht. Schüchterne Menschen kommen immer wieder darauf zurück, dass sie möglicherweise gleich etwas sagen oder tun müssen. Sie fragen sich, ob ihre Beobachterrolle komisch ist. Sie wünschen sich, aktiver teilnehmen zu können.

Praktisches Beispiel: Jemand schlägt vor, eine Runde Fußball zu spielen. Die schüchterne Person und die introvertierte Person sind beide keine besonders guten Spieler. Sie setzen aus und gucken zu. Die introvertierte Person wird wahrscheinlich zufrieden sein. Die Zuschauerrolle ist keine Belastung – viel blöder wäre es doch, sich zu etwas zu zwingen, worauf man keine Lust hat. Doch die schüchterne Person hat damit zu kämpfen, nicht dabei zu sein. Sie überlegt, ob es nicht besser wäre, einfach mitzuspielen. Sie ärgert sich, dass sie nicht den Mut dazu hat. Das Beobachten ist eine Belastung.

Introvertierte können extrem selbstbewusst sein, Schüchterne nicht

Der wohl klarste Unterschied zwischen Schüchternen und Introvertierten liegt im Selbstbewusstsein. Um schüchtern zu sein, muss es daran nämlich immer in gewisser Weise fehlen. Unsicherheit führt dazu, dass Ablehnung erwartet und als tragisch wahrgenommen wird. Dadurch wird weniger frei gelebt.

Introvertierte Menschen zeigen zwar viele ähnliche Verhaltensweisen wie schüchterne Menschen, aber sie können dabei normal oder sogar stark selbstbewusst sein. Ihre ruhigere Art kommt nicht durch Angst zustande. Somit können sie gleichzeitig von sich und ihren Ansichten überzeugt sein und sie für sich behalten. Sie können sich gegen ein Treffen mit Freunden entscheiden und dabei keinerlei negative Gefühle spüren. Schüchterne fühlen sich deutlich weniger frei in ihren Entscheidungen, weil Sorge immer eine viel zu große Rolle spielt.

Praktisches Beispiel: Sally Schüchtern und Ingo Introvertiert sind Experten für gute Weine. Wenn Ingo Introvertiert in die Welt geht, wird sein Weinwissen ihn treu begleiten. Bietet sich die Chance, darüber zu sprechen, wird er sie ergreifen. Er kennt seine Stärken. Sally Schüchtern weiß genauso viel über Wein. Doch wenn das Thema aufkommt, zögert sie. Weiß sie wirklich so viel, wie sie denkt? Will überhaupt jemand ihre Meinung hören? Sie sagt entweder gar nichts oder ist sehr nervös, wenn sie spricht. Auf eine ausgiebige Diskussion hat sie keine Lust, da sie nicht glaubt, sich durchsetzen zu können.

Eine Mischung aus schüchtern und introvertiert

Wie an diesen Beispielen sicherlich schon zu erkennen ist, gibt es große Überschneidungen zwischen Introversion und Schüchternheit. Ein wenig schüchtern zu sein, ist auch kein Problem. Viele Introvertierte haben von Natur aus eine Prise Schüchternheit mitgegeben bekommen – beziehungsweise wird sie schnell zum Teil der Persönlichkeit. Denn wer ruhiger ist, bekommt in der modernen Gesellschaft schnell mal negatives Feedback.

Daraus ergibt sich dann, dass Introvertierte länger brauchen, um sich zu öffnen. Sie machen nicht alles sofort mit, teilen ihre Meinung nicht mit jedem und sie rechnen eben auch damit, dass sie abgelehnt werden – die Frage ist, wie sie mit dieser Erwartung umgehen.

Da liegt der springende Punkt. In dem Moment, in dem potentielle Ablehnung eine klare Hemmung auslöst, muss von Schüchternheit gesprochen werden. Für introvertierte Menschen ist es eine enorme Herausforderung, da genau hinter zu steigen. Wann bin ich freiwillig ruhiger und wann bin ich gehemmt? Bin ich nur in bestimmten Situationen schüchtern oder immer? Soll ich etwas ändern oder mag ich meine Art? – All das ist ein schwieriger und meist lebenslanger Prozess.

schüchtern und introvertiert sein

Fazit: Deshalb ist die Unterscheidung so wichtig

Schüchternheit kann überwunden werden, Introvertiertheit nicht. Der Mythos von „So wirst du extrovertiert“ wird noch immer von Coaches und Unwissenden (und unwissenden Coaches) am Leben erhalten. Doch introvertierte Menschen werden immer mehr Ruhe brauchen und etwas anders denken und fühlen als die meisten extrovertierten Menschen.

Was jeder ändern kann, ist der Umgang mit dem Selbst. Schüchterne Menschen können durch Therapie, Reflexion, Recherche, Übung und unzählige andere Methoden lernen, sich in sozialen Situationen wohler zu fühlen. Dann gehen sie auch mehr aus sich heraus. Sofern sie ambivertiert oder extrovertiert sind, verschwinden dann auch viele vermeintlich introvertierte Eigenarten.

Aber all diese Übungen für mehr Selbstsicherheit werden die grundlegende Hirnchemie und Veranlagung bei tatsächlich Introvertierten nicht überschreiben. Somit kann jeder Mensch Schüchternheit verringern oder sogar ablegen, aber niemand wird umgepolt. Die Unterscheidung ist also wichtig, damit niemand versucht, verzweifelt seine introvertierte Art loszuwerden. Das führt nur zu Frust und lässt außerdem außer Acht, wie viele Vorteile Introversion haben kann.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein