Introvertiert im Alter: Was kommt später?

Vor ein paar Jahren, als ich noch berufstätig war, wartete ich mit einer Kollegin und einem Kollegen im Auto an einer roten Ampel. Schräg gegenüber stand eine große Plakatwand, auf der für eine Senioreneinrichtung geworben wurde: Pflegerin im Kittel, freundliches Gesicht, großer Text „Wenn Herr Schmidt zufrieden in Erinnerungen an seine Jugend vertieft ist, lasse ich ihn in seinem Sessel und hole ihn nicht zum Gesprächskreis.“[1]

Meine beiden Mitfahrer empörten sich darüber. Alte Menschen müsse man motivieren und aus ihrer Lethargie herausholen, soziale Interaktion sei doch so wichtig, es sei doch keine Empfehlung, jemanden in Ruhe zu lassen! Meine Einrede, dass die Gedanken des Herrn Schmidt für ihn ja anregender und erfüllender sein könnten als der drohende Gesprächskreis, führte nach Missfallensäußerungen rasch zum Gesprächsabbruch.


Dies ist ein Gastbeitrag von Heinz Braun. Falls Du mehr über Gastbeiträge erfahren möchtest, hier entlang: Gastbeiträge auf Wanderlust Introvert. 


Eigentlich erwartete ich mir Ruhestand und Alter weitaus freier von sozialem Stress, als es die Zeiten von Jugend und Erwerbstätigkeit waren. Wie quälend wäre es aber, als Hilfsbedürftiger einer sozialen Zwangsmobilisierung nach Art meiner Kollegen ausgesetzt zu sein?

Wie ich später bei pflegebedürftigen Verwandten gesehen habe, besteht in Senioren- und Pflegeeinrichtungen eher nur eine geringe Gefahr ausufernder Zwangsbeschäftigung, dazu ist in der Regel dort die Personaldecke zu dünn. Auch gehen die Pflegekräfte durchaus professionell auf Rückzugsbedürfnisse der Bewohner ein – es sei denn, im Pflegeprotokoll ist das Häkchen bei „soziale Mobilisation“ noch nicht gesetzt.

Bei geringen finanziellen Möglichkeiten wird es aber in jedem Fall strukturell sehr beengend: Unterbringung im Zweibettzimmer, Essen nur gemeinsam, tagsüber Aufenthalt außerhalb des Zimmers im Gruppenraum erwünscht – das sind ständige soziale Zwangskontakte, die einer introvertierten Person schnell zu viel sein können. Und dann der Wettbewerb, wer am häufigsten Besuch hat, da rangiert man dann ganz unten …

Nun hoffe ich zwar, dass für mich das Einrücken in eine Pflegeeinrichtung wenn überhaupt, dann erst in ferner Zukunft ansteht, aber mit meinem Renteneintritt haben sich auch andere Verhältnisse unerwartet entwickelt.

Konfliktvermeidung?

Das Ende der Berufstätigkeit hat mich zwar von quälenden beruflich veranlassten Veranstaltungen befreit, wie ganztägigen Besprechungen, mehrtägigen Fortbildungen oder Gruppen-Dienstreisen, alle vom Veranstalter meist mit dem Anspruch verbunden, auch noch die Pausen, die Mahlzeiten und ggf. sogar die Abende gemeinsam zu verbringen.

Andererseits gestattete mir mein Beruf aber in den übrigen Zeiten unter Menschen zu sein, ohne dass ich mich von ihnen genervt gefühlt hätte. Hatte ich doch insbesondere Tätigkeiten und Aufgabenfelder mit im wahrsten Sinne des Wortes „Alleinstellungsmerkmalen“ übernommen, in denen ich weitgehend autonom, ohne ständige Rücksprache und Diskurs arbeiten konnte. Ich tüftelte an meinen Aufgaben, dazwischen ab und zu ein angenehmes Schwätzchen über den Flur – ich war oft für mich und doch eingebunden. Solche beiläufigen Sozialkontakte waren mit der Verrentung weitgehend entfallen.

Die Kontakte, die ich jetzt aufrechterhalte, sind angestrebt und haben dementsprechend einen höheren Grad von Verbindlichkeit als zufällige Unterhaltungen auf dem Bürokorridor. Das ruft bei dem überwiegend extro- oder ambivertierten Gegenüber meist die Erwartung hervor, dass ich die Kontakthäufigkeit und –dauer seinen Gewohnheiten entsprechend einrichte. Das passt aber nicht.

Während der Berufstätigkeit konnte ich meine Teilnahmen an ausufernden privaten Treffen und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen kurz halten oder sie ganz vermeiden mit einem Verweis auf dringende, ausstehende Arbeiten (…muss am Wochenende noch den Bericht durchsehen …) oder den folgenden besonders anstrengenden Tag. Durch solche kleinen Lügen schützt man ja die Beziehung zu Extrovertierten vor Beschädigung: Dadurch war allen geholfen, ich konnte früher gehen oder absagen, und da dies aus „übergeordneten Gründen“ geschah, waren die Initiatoren oder Gastgeber nicht beleidigt.

Nun im Ruhestand entfällt diese Möglichkeit der Konfliktvermeidung weitgehend. Nun muss ich schon sagen, dass es halt mal reicht an Geselligkeit oder dass ich meine Ruhe haben möchte. Das führt zu Irritationen, die zwar nicht den Abbruch von Beziehungen zur Folge haben, aber die Leute halten sich zurück und die Initiative zum Zusammentreffen mit Personen, an denen mir etwas liegt, wird zunehmend von mir ausgehen müssen.

Auch im Zusammenleben mit meiner Frau, einer ambivertierten Persönlichkeit, hat der Ruhestand natürlich Veränderungen mit sich gebracht, die meine Introvertiertheit betreffen. Während unseres Berufslebens hatte es sich oft einfach ergeben, dass man auch nach der Arbeit mal getrennte Wege gegangen war, und ich hatte in diesem Rahmen meinen Bedürfnissen nach Alleinsein ein Stück weit nachkommen können. Und meine Unlust, an Partys und Veranstaltungen teilzunehmen, hatte sich als Folge der beruflichen Anforderungen erklären lassen.

Diese Faktoren sind nun entfallen, wir sind beide viel zuhause und ich muss Wünsche nach Alleinsein explizit äußern. Zum Glück hat meine Lebenspartnerin eigene Interessen, denen sie auch ohne mich nachgeht. Und ich hatte ihr ja schon vor langer Zeit meine zeitweise völlige Ungeselligkeit erklärt. Sie ist da recht verständnisvoll; aber Häufigkeit und Ausprägung meiner Unzugänglichkeitsphasen stellen Reibungspunkte dar, die sich nicht ausräumen lassen und die wir hoffentlich auch in Zukunft aushalten bzw. die durch positiv erlebte gemeinsame Zeitphasen aufgewogen werden.

introvertiert erst später erkennen

Früher Tod durch Alleinsein?

Mit dem Renteneintritt rückt das Lebensende ja drohend näher, und Veröffentlichungen und Tipps zum gesunden Altern, in denen zurückgezogen lebenden Menschen eine kürzere Lebensdauer prognostiziert wird, gaben mir als introvertierter Persönlichkeit natürlich besonders zu denken[2]. Statistisch zeige sich eine erhöhte Sterblichkeit bei Personen mit wenigen bis fehlenden sozialen Kontakten. Das schlägt sich auch in Berechnungen zur Restlebenserwartung nieder[3]: Gibt man dort an, nur wenige soziale Kontakte zu haben, so verringert sich das prognostizierte Lebensalter um ein Jahr gegenüber dem Alter, das bei Angabe von regelmäßigen sozialen Kontakten (bei ansonsten gleichen Faktoren) errechnet wird.

Unklar bleibt allerdings, ob dieser Zusammenhang unabhängig von Introversion oder Extraversion besteht. Wäre in einer beobachteten Personengruppe die Empfindlichkeit gegenüber sozialer Isolation bei Introvertierten fehlend, jedoch bei den zahlenmäßig überwiegenden Extrovertierten groß, so errechnete sich für die Stichprobe als Ganzes ein Einfluss auf die Lebenserwartung, obwohl er für die Introvertierten nicht bestünde.

Im Grunde genommen besagen die Untersuchungen, dass ungewollt isoliert lebende Menschen sich häufig ungesünder verhalten und darum eine erhöhte Sterblichkeit haben[4]. Trifft auf mich nicht zu – ich bin gerne allein und lebe trotzdem gesund!

Auch nehme ich im Gegenteil an, dass bei einer introvertierten Persönlichkeit zu viele soziale Kontakte zu gesundheitsschädlichem Stress führen. So werden u. a. „unerwünschte oder inadäquate Unterstützung“ und „exzessive Hilfe und einmischend-aufdrängendes Verhalten“ als Belastungen beschrieben[5].

Ich mache mir darüber aber nicht mehr allzu viele Gedanken. Selbst wenn der Zusammenhang zwischen Alleinsein und erhöhtem Sterberisiko bestünde, so zweifle ich doch, dass ein zusätzliches Lebensjahr die vielen Jahre zuvor aufwiegen könnte, in denen ich mich zur Erreichung meiner „sozialen Fitness“ mit ungewollten Kontakten und Beziehungen quälen müsste. Also keine Angst und kein schlechtes Gewissen!

erfahrungsbericht introvertiert

Vorbereitet sein

Zurück zur eingangs geschilderten Problematik der Pflegebedürftigkeit. Um meine sozialen Kontakte regulieren und ein Leben in Pflegeeinrichtungen vermeiden oder auf einen kurzen Lebensabschnitt begrenzen zu können, habe ich mir ganz praktische Ziele gesetzt: Vor allem konsequent auf die Gesundheit achten, um einen möglichst großen Grad an Autonomie zu bewahren. Rechtzeitig die Wohnung und das Wohnumfeld so aussuchen und gestalten, dass man auch allein und mit Behinderung darin noch zurechtkäme (was ist z. B. nach einer ambulanten Knie-OP?).

Hilfe durch Bekannte und Verwandte kann schnell vereinnahmend werden – die Inanspruchnahme professioneller Hilfe erlaubt dagegen eine Beschränkung auf die sachliche Ebene, und es ist beruhigend, wenn man sich im Vorfeld schon über entsprechende Möglichkeiten informiert hat. Leider ist das auch eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Aber auch mit der Nachbarschaft lassen sich einfache Hilfsleistungen organisieren.

Wie sähe mein Idealbild aus? Altern in einer Gemeinschaft, in der man sich, wenn es notwendig ist, selbstverständlich gegenseitig hilft, ohne dass die Voraussetzungen dafür ständige Kontaktbereitschaft und Geselligkeit sind. So etwa wie in Alina Bronsky‘s Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ die Bewohner des Dorfes Tschernowo, die in die nuklear verseuchte Gegend bei Tschernobyl zurückgekehrt sind und dort abseits von Betriebsamkeit und Aufdringlichkeit leben: „Jeder kennt jeden, jeder weiß, wo der andere herkommt, und ich vermute, dass jeder auch sagen könnte, wann der Nachbar aufs Klo geht und wie oft er sich in der Nacht umdreht. Was nicht bedeutet, dass hier alle aufeinanderhocken. Wer nach Tschernowo zurückkehrt, hat keine Lust auf Gemeinschaft.“


[1] Sinngemäß, Text ist aus der Erinnerung, das Originalplakat ist natürlich nicht mehr auffindbar.
[2] z. B. https://www.bring-together.de/de/gemeinschaft/ratgeber/ich-bin-neu/soziales-alter-soziale-kontakte „Warum soziale Kontakte unser Leben verlängern“
[3] http://test.gesundheit.ch/
[4] z. B. Association of social relationships with incident cardiovascular events and all-cause mortality, in www.higgs.ch, „Wer viel allein ist, hat auch ein höheres Sterberisiko“, Cornelia Eisenach
[5] www.leitbegriffe.bzga.de, „Soziale Unterstützung“, Peter Franzkowiak


Anmerkung Jennifer: Ich bedanke mich recht herzlich für diesen Beitrag und hoffe, dass dieser Einblick ins höhere Alter für einige Leser interessant sein wird. 

2 Kommentare

  1. Guten Morgen Herr Becker,
    Ihr Beitrag greift ein sehr wichtiges Thema (das mit keiner leichten Kost
    untermauert ist) auf.
    Hiermit zitiere ich Sie und teile Ihre Sichtweise:
    „Altern in einer Gemeinschaft, in der man sich, wenn es notwendig ist, selbstverständlich gegenseitig hilft, ohne dass die Voraussetzungen dafür ständige Kontaktbereitschaft und Geselligkeit sind.“
    Sehr gelungener Beitrag und ich würde mich freuen, bald wieder einen weiteren Beitrag zu diesem Thema von Ihnen als Gastautor lesen zu können!
    Viele Grüße Tina

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