Es hält sich unter ehrlichen Menschen eine eigenartige Annahme: Wer ehrlich ist, hat keine Freunde – oder immerhin weniger. Das scheint auf den ersten Blick absurd zu sein. Immerhin sagt doch so gut wie jeder Mensch, dass er Ehrlichkeit bei seinen Freunden schätzt. Wie passt das zusammen?
Ehrliche und direkte Menschen machen ganz einfach die Erfahrung, dass es ihnen schwerer fällt, Freundschaften zu schließen und zu halten. Somit verbreitet sich die Idee, dass Ehrlichkeit einer Freundschaft auch im Weg stehen kann. Wie viel ist da dran? Das ist keine ganz einfache Frage.
Nicht jeder kann mit ehrlichen Freunden umgehen – somit liegt die Ursache in diesem Fall beim (ehemaligen) Freund. Aber es gibt auch ehrliche Menschen, die ganz einfach über das Ziel hinausschießen und Ehrlichkeit mit Taktlosigkeit gleichsetzen – also liegt die Ursache in einem selbst. Aus beiden Situationen kann sich ergeben, dass ein ehrlicher Mensch ohne Freunde dasteht. Und natürlich gibt es auch viele Grautöne zwischen diesen zwei Kategorien.
Was sind ehrliche Menschen?
Jeder weiß wohl, was Ehrlichkeit ist – oder auch nicht. Denn Ehrlichkeit ist für die einen lediglich die Abwesenheit von Lügen. Ehrliche Menschen sind somit diejenigen, die anderen niemals bewusst die Unwahrheit sagen.
Allerdings wird unter Ehrlichkeit auch Aufrichtigkeit verstanden. Damit reicht es nicht nur, nicht zu lügen. Auch Täuschungen zu vermeiden und ehrenhaft zu handeln, zählt da hinein. Es zeigt sich schon mal: Ehrliche Menschen sind gar nicht so einfach zu greifen.
Das erschwert auch die Beantwortung der Frage, ob Ehrlichkeit einer Beziehung (romantisch, beruflich oder freundschaftlich) zuträglich ist. Denn was für den einen ehrliches Verhalten ist, ist für den anderen nur Standard. Erwarte ich von meinen Freunden, dass sie mir schonungslos die Wahrheit sagen, reicht es nicht, dass sie auf Anfrage mal ein wenig Kritik üben. Ich erwarte nun mal mehr, als nur nicht angelogen zu werden.
Die andere Seite der Medaille sind die Menschen, die Ehrlichkeit immer nur auf Abfrage und doch bitte abgeschwächt haben wollen. Die neue Frisur? Wunderschön (… naja)! Das Problem mit der nervigen Kollegin? Natürlich die Schuld der Kollegin (…naja)! Schuld an allen Problemen sind doch sowieso nur Politiker (…naja)!
Mit Menschen, die unter Ehrlichkeit auch geschönte Wahrheiten und das Verstecken von wahren Gefühlen verstehen, kann eine ehrlich Person praktisch nicht befreundet sein. Zumindest nicht, ohne sich selbst massiv zu verstellen.
Ehrliche Menschen haben wenig Freunde
Es gibt keine schönen Statistiken dazu, was Menschen unter Ehrlichkeit verstehen und wie viel sie davon bei ihren Freunden sehen möchten. Aber wir gehen erfahrungsmäßig mal davon aus, dass es doch sehr, sehr viele sind, die nicht auf totale Ehrlichkeit setzen. Somit laufen ehrliche Menschen Gefahr, mit diesen Personen nie richtig klarzukommen.
Logischerweise verringert das die Chancen auf Freundschaften. Menschen, die sehr verträglich sind und problemlos auch mal lügen oder täuschen, um bei anderen gut dazustehen, passen in mehr soziale Situationen und werden oftmals von mehr Menschen gemocht.
(An dieser Stelle würde ich dieses Verhalten gerne schlechtmachen und kritisieren. Allerdings ist das nicht der richtige Artikel dafür und ich muss auch zugeben, dass ich manchmal sehnsüchtig auf diejenigen schaue, die als soziale Schmetterlinge durch das Leben flattern und überall gut ankommen. Das Gefühl verschwindet zwar wieder, weil mir Ehrlichkeit wichtig ist, doch man sollte vorsichtig sein, wenn man Leuten nachgeht, die aus ihrer sozialen Kompetenz Vorteile ziehen, die man selbst nicht ablehnen wollen würde.)
Gehen wir davon aus, dass es viele Menschen gibt, die nicht bereit sind, von ihren Freunden schonungslose Ehrlichkeit zu hören, dann ja, ehrliche Menschen haben weniger Freunde. Beziehungsweise müssen ehrliche Menschen länger suchen, um gute Freunde zu finden und zu halten.
Nicht übertreiben: Direktheit und Ehrlichkeit müssen abgestimmt werden
Dass aufrichtige Menschen weniger feste Freundschaften schließen, haben die meisten Menschen wahrscheinlich schon erwartet. Wer selbst sehr ehrlich ist (oder war) wird nämlich den Gegenwind gespürt haben. Typischerweise klingt das so: Man sei zu direkt und müsse nicht immer alles aussprechen, was man denkt. Dazu empfehle ich einen weiteren Text.
Leseprobe: „Ja, wir sollten aufpassen, dass wir die Gefühle anderer nicht lächerlich machen oder für unwichtig erklären. Direkt und ehrlich muss kein Dauerzustand sein, manchmal sind Rücksicht oder Stille angebracht, um eine Beziehung (Freundschaft, Liebe, Familie) nicht zu gefährden.
Aber mittlerweile weiß ich auch, dass ich nur Zeit mit Menschen verschwende, die von mir falschen Optimismus, geschönte Ratschläge oder Halbwahrheiten erwarten. Ich kann und will mich nicht verstellen, um beliebter zu sein. Solange ich nicht zum A-Loch mutiere, bin ich mit meiner Art sehr zufrieden.
Wenn ich auf meinem Sterbebett zurück auf mein Leben schaue, wäre es tragisch, wenn ich sehe, dass ich stets beliebt war, aber auch keinerlei Profil hatte. Also ist die Auswahl an Freunden und Partnern für mich geringer, da viele diese Art nicht mögen. Keine leichte Erkenntnis, keine Erkenntnis, die ich als Teenager schon akzeptiert hätte, aber eine, die zu mir passt. Denn sie ist ehrlich und direkt und das im richtigen Maß.“ Aus: Bin ich zu ehrlich und direkt?
Haben ehrliche Menschen gar keine Freunde?
Die harte Wahrheit ist, dass Menschen, die glauben, dass sie nur aufgrund ihrer Ehrlichkeit keine Freunde hätten, sich wahrscheinlich (ironischerweise) selbst belügen. Ehrlichkeit allein verdammt niemanden zu einem Leben ohne Freunde.
Denn bei all dem Gerede über Menschen, die nur geschönte Wahrheiten lieben (oder gar Lügen als normal ansehen), darf nicht vergessen werden, dass viele Menschen Ehrlichkeit wirklich schätzen. Sie brauchen jemanden, der ihnen die Wahrheit sagt, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Oftmals gibt es genug der lächelnden und lügenden Menschen im Leben und die Ergänzung durch einen aufrichtigen Menschen ist wichtig, um nicht durchzudrehen.
Nun gibt es zwei Szenarien, die dazu führen, dass Ehrlichkeit trotzdem Freundschaften blockiert. Erstens: Im sozialen Umfeld mangelt es einfach an Personen, die ehrliches Verhalten schätzen. Somit wurden diejenigen, die die ehrliche Art schätzen würden, einfach noch nicht gefunden. Zweitens: Man verwechselt Ehrlichkeit mit Unhöflichkeit.
Wahrheiten sollten keine Waffen sein
Immer wieder meckern Personen über die Welt, weil sie so falsch sei und keiner ihre Wahrheiten aushalten würde. Wenn man ein wenig Zeit mit ihnen verbringt, wird schnell klar, was wirklich vor sich geht: Diese Menschen sind oft unhöflich und empathielos.
Unter Ehrlichkeit verstehen sie nicht nur, die Wahrheit zu sagen. Sie nehmen sich auch das Recht heraus, ihre (ach so wahren) Gedanken jederzeit heraus zu posaunen und dabei keine Rücksicht auf ihre Mitmenschen zu nehmen. Das ist unhöflich und oftmals einfach gemein.
Absolute beziehungsweise totale Ehrlichkeit zu jedem Zeitpunkt kann nicht existieren, ohne anderen wehzutun. Wer nicht bereit ist, sich auch mal zurückzunehmen oder einzuschätzen, ob die Wahrheiten gerade in die Situation passen oder nicht, der scheitert nicht an seiner Ehrlichkeit, sondern an seiner Rücksichtslosigkeit.
Der Unterschied zwischen Wahrheit und Ehrlichkeit
Die besonders ehrlichen Leser, die nie ein Blatt vor den Mund nehmen, werden jetzt wahrscheinlich ein wenig angepisst sein. Immerhin verkörpern sie allein die gelebte Ehrlichkeit. Hier aber ein Gedanke, der nicht ignoriert werden sollte: Sind die persönlichen Wahrheiten auch objektive Wahrheiten?
Nein, eher nicht. Wer immer direkt ausspricht, was er denkt, und niemals Rücksicht auf andere nimmt, der sagt auch automatisch ständig Dinge, die nicht stimmen oder nicht den Kontext der Situation bedenken. Wenn du jemandem sagst, dass seine politische Einstellung totaler Müll ist, dann ist das deine persönliche Einschätzung, aber keine objektive Wahrheit. Somit gewinnt niemand, wenn du ungefragt und ungefiltert raushaust, was du denkst.
Wenn du ehrlich mit dir selbst bist, dann stellst du dein Bedürfnis danach, deine Gedanken zu teilen, über das Wohlbefinden deiner Mitmenschen. Das ist deine Entscheidung, aber dann jammere nicht, dass ja keiner deine Ehrlichkeit aushalten würde. Es gibt Mittel und Wege, ehrlich zu bleiben und gleichzeitig nicht zu einem A-loch zu werden, das alle vor den Kopf stößt.
Ist Ehrlichkeit eine Schwäche?
Ehrlichkeit kann eine Schwäche sein. Über totale Ehrlichkeit haben wir gesprochen: Wer es nicht schafft, Empathie und Ehrlichkeit zusammenzuführen, wird wahrscheinlich viele Gefühle verletzen und am Ende allein dastehen.
Aber selbst diejenigen, die nicht alles raushauen, was sie denken, können unter ihrer Ehrlichkeit leiden und Nachteile erfahren. Denn in jeder sozialen Situation und mit jedem Gesprächspartner muss praktisch neu ausgehandelt werden, wie viel Ehrlichkeit angebracht ist. Unaufrichtige Menschen, die das Beschönigen oder Lügen erst einmal immer durchziehen, haben das Problem nicht. Doch wer immer gucken will, ob er ehrlich sein sollte, der arbeitet hart. Und fliegt auch mal auf die Fresse.
Einem Vorgesetzten ehrlich zu sagen, dass er gerade nicht gut arbeitet, kann Vorteile haben. So musste der Vorgesetzte vielleicht endlich mal hören, dass etwas nicht rundläuft. Oder aber es handelt sich um jemanden, der nicht gewillt ist, Kritik anzunehmen – und plötzlich ist man der Meckerkopp des Büros, weil man es gewagt hat, etwas anzusprechen. Oftmals ist man mit den Gedanken nicht mal allein gewesen, aber alle anderen halten brav den Mund.
Ehrlichkeit muss geübt werden. Ehrlichkeit wird oftmals abgelehnt. Ehrlichkeit ist kompliziert. Also ja, im ersten Moment ist sie eine Schwäche. Doch sie wird in dem Moment zur Stärke, in dem man an Menschen gerät, die sie zu schätzen wissen. Oberflächliche und unaufrichtige Kontakte gibt es wie Sand am mehr, aber Ehrlichkeit wird seltener – somit setzt sich ein ehrlicher Mensch von der Masse ab und damit kann man auch Erfolge feiern.
Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus
Ob sich Ehrlichkeit auszahlt oder nicht, hängt immer von der Situation und vor allem der bestehenden Beziehung zu der anderen Person ab. Führt eine aufrichtige Aussage zu einer Verbesserung der Situation, war sie lohnenswert. Geht die Beziehung daran kaputt, zahlt sich Ehrlichkeit nicht aus.
Somit soll an dieser Stelle einfach darauf hingewiesen werden, dass man dieses sehr komplexe Thema nicht zu sehr vereinfachen sollte. Mir persönlich wurde Ehrlichkeit auch schon häufiger zum Verhängnis – viele Menschen wurden nie zu Freunden oder können mich einfach nicht leiden. Gleichzeitig wissen meine Freunde, dass sie mit größeren Problemen zu mir kommen können, weil sie auch mal direkte Ansagen bekommen und nicht die geschönten, oberflächlichen Meinungen vieler anderer Menschen in ihrem Leben.
Mit einem Menschen bringt mir Aufrichtigkeit Vorteile, mit einem anderen Menschen Nachteile. Wenn ich mich als ehrliche Freundin präsentiere und dies als Stärke im Umgang mit meinen Mitmenschen definiere, muss ich auch anerkennen, dass es an anderen Tagen und mit anderen Menschen eine Schwäche ist. Fast so, als wäre das Leben nicht in einer einzigen Zeile wie „Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus“ zusammenzufassen.
Fazit: Wie wichtig ist Ehrlichkeit in einer Freundschaft?
Für mich ist Ehrlichkeit wichtig. Gleichzeitig würde ich nicht von Menschen umgeben sein wollen, die glauben, dass jeder ihrer Gedanken ohne Konsequenzen durch die Gegend geschleudert werden sollte. Man kann ehrlich sein, ohne dabei auf Rücksicht und Empathie zu verzichten.
Aber die Realität ist nun mal, dass unehrliche Menschen, die gut täuschen können, im Leben auch oftmals weiter kommen als ehrliche Menschen. Sie haben auch „mehr“ Freunde. Aber ob man bei Freunden auf Quantität statt auf Qualität setzen sollte? Eher nicht. Wenn du ehrlich bist, dann bleib es auch. Freundschaften bleiben dir deshalb nicht verwehrt, sie sind nur seltener. Aber stört dich das wirklich?