Ein Brief an mein jüngeres, introvertiertes Ich

Liebe Jennifer, ja du, hier bin ich, also du. Du solltest das verstehen, immerhin hast du (oder ich oder wir?) schon immer Gefallen an komischen Dingen gefunden. Ein Brief von dir an dich ist also sicherlich nicht das Verrückteste, was dir damals, heute, morgen einfallen könnte.

Du bist jetzt älter, aber nicht wirklich erwachsener. Verwundert? Keine Sorge, ich erkläre es gleich. Da wir ja Übersichtlichkeit schätzen, habe ich diesen Brief in 10 Weisheiten unterteilt, die du noch lernen wirst, aber früher gebraucht hättest. Er ist übrigens auf deinem Blog veröffentlich worden, ja, du hast später einen Blog.

  1. Du kannst extrovertierte Vorbilder haben, ohne sie zu kopieren

Jemanden zu schätzen, heißt nicht, so wie dieser jemand werden zu müssen. Dir fallen auf Anhieb dutzende Menschen ein, die du cool, bewundernswert oder beeindruckend findest – viele davon sind aufgeschlossen, beliebt und gerne im Mittelpunkt.

Das musst du nicht sein. Kopieren ist keine gute Idee. Jedes mal, wenn du glaubst, ein wenig so zu werden, wie die Menschen, die du dir zum Vorbild nimmst, wirst du dich gegen deine Natur wehren. Am Ende wirst du wieder scheitern und dich noch schlechter fühlen als vorher. Du wirst eines Tages lernen, dass du Extrovertierte mögen kannst, ohne ihnen nacheifern zu müssen.

PS: Introvertierte können selbstbewusst sein. Den Dreh hast du bald raus.


  1. Alkohol ist keine echte Lösung

Ach ja, da wir gerade beim Thema „extrovertiert sein“ sind, nur weil du unter Alkoholeinfluss deine Hemmungen verlierst, bist du nicht plötzlich weniger introvertiert. Wenn die Wirkung verflogen ist, wirst du dich fragen, wer die Person eigentlich war, die da diese verrückten Dinge getan hat. Das ist es nicht wert, glaube mir.


  1. Deine Hobbys sind nicht komisch, peinlich oder schlecht

In der Zukunft wirst du dich einen Dreck darum scheren, ob deine Hobbys komisch wirken oder nicht. Doch ich weiß, dass war früher nicht so. Du hast geglaubt, dass die Meinung deiner gleichaltrigen Artgenossen so wichtig ist, dass es besser wäre, einige Sache zu verstecken. Keine Sorge, du weißt irgendwann, dass „normal sein“ gar kein erstrebenswertes Ziel ist.


  1. Niemand darf dir das Gefühl geben, du wärst falsch (auch Familie nicht)

Es gibt Menschen in deinem Leben, die dir das Gefühl geben, du müsstest dich ändern, um glücklich zu werden. Sie tun das mit guter Intention, aber mit schrecklichen Folgen. Sie drängen dir einen Lebensstil auf, der dich nicht glücklich macht. Ganz im Gegenteil.

Du wirst noch einige Jahre brauchen, um das zu erkennen, aber: Die Menschen, die dir einreden, du wärst nicht richtig, sind die Menschen, die dich davon abhalten, zufrieden zu sein. Einige wirst du aussortieren, andere wirst du behalten, musst ihnen aber verdeutlichen, dass sie keinen Einfluss auf dich haben.


  1. Ja, die Schule hat dich krank gemacht

Du wirst die Schulzeit nicht vermissen. Du bist übermüdet, unter Druck, hast einen Haufen absolut unfähiger Lehrer, kannst dich ohnehin nicht konzentrieren und wirst nach deiner Schulzeit viel, viel mehr lernen – aus eigenen Antrieb heraus –, als die Schule dir bieten kann. Schreibe weiter Notizen für deine Geschichten und male weiter auf dem Seitenrand.


  1. Selbstmitleid steht dir nicht

Dass deine Freunde andere Freunde haben, macht dich nicht weniger wichtig. Da du dich sehr an Menschen hängst, macht es dich fertig, wenn sie selbst scheinbar nicht zufrieden mit deiner Freundschaft sind. Daran kannst du aber nichts ändern und dein Selbstwert darf davon nicht abhängig gemacht werden.

Du wirst später deine kleine Gruppe von Tunichtguten haben und die werden dich zu schätzen wissen. Das Drama, das du dir aktuell schaffst, wirst du bald hinter dir lassen. Selbstmitleid in jeglicher Form ist etwas, was du später nur noch humoristisch benutzen wirst.*

*Beispiel: Wenn dein Konto leer ist, wirst du dafür die Verantwortung übernehmen und einsehen, dass nur du etwas ändern kannst. Fällt dir aber ein Stück von deinem Keks auf den dreckigen Boden, hat es Gott auf dich abgesehen und das Leben ergibt keinen Sinn mehr. 


  1. Es gibt keinen Zeitplan

Ganz ehrlich? Daran arbeitest du noch. Es gibt keinen imaginären Zeitplan, den du unbedingt abarbeiten musst. 16 ist nur eine Zahl, genau wie 21 und 30. Der Druck, der durch die Gesellschaft und die Menschen in deiner Umgebung an dich herangetragen wird, ist absurd. Niemand weiß, was er macht (siehe Weisheit Nummer 10).


  1. Behalte deine große Klappe, sonst wird man dich übergehen

Es wird immer wieder Menschen geben, die dir einreden, du wärst zu direkt oder gar gemein. Dann ziehst du dich zurück und veränderst dich. Totaler Bockmist. Deine schroffe Art wird dich davor bewahren, von anderen ausgenutzt oder übergangen zu werden. Glaube mir, du wirst sie behalten und sie wird dir helfen.


  1. Du bleibst Außenseiter

Schlechte Nachrichten: Du wirst für den Rest deines Lebens komisch angesehen werden, weil du über alles mögliche nachdenkst, was gar nicht wichtig erscheint. UND weil du deshalb Leute korrigierst, wenn sie Unsinn reden. Du beobachtest, wie es Introvertierte nun mal tun, hörst zu, findest Zusammenhänge, driftest ab, kommst zurück, willst verstehen.

Damit wirst du immer einer Minderheit angehören. Du nervst Menschen, wenn du sie hinterfragst. Die tiefgründigen Diskussionen, die dir Spaß machen, sind nicht für den Alltag vorgesehen. Daher gilt auch hier: Eine kleine Gruppe bleibt übrig, aber die Mehrheit der Menschen wird dich komisch finden.


  1. Erwachsene wissen nicht, was sie tun

Ich lache dich mal aus. Also, ich lache uns aus. Denn wie absurd ist es, dass wir dachten, Menschen über 20 hätten ihr Leben im Griff? Wüssten, was sie tun? Hätten Ahnung?

Wow. Definitiv der größte Irrtum deines Lebens. Spoiler-Alarm: Niemand hat auch nur einen blassen Schimmer, wie diese Welt funktioniert. Egal in welchem Alter: Wir scheitern, entdecken Neues, sind hilflos und wollen eine Pause, sind überfordert.

Das ist natürlich alles andere als beruhigend. Immerhin dachtest du, irgendwann würde das Leben einfacher oder zumindest verständlicher werden. Wird es nicht wirklich. Es gibt keinen magischen Punkt ab dem das Leben plötzlich geordnet oder sinnvoll ist. Du kannst zwar lernen und verstehen, aber Souveränität? Leider ausverkauft.


Bonus: Es wird besser.

Ja, du bleibst eine Chaotin, ja, die Welt ist ein ziemlich verwirrender und teilweise grausamer Ort. Aber wenn du erst einmal akzeptiert hast, dass du introvertiert bist, einen Knall hast und trotzdem überlebst, wird das Leben tatsächlich besser.

Du bist weit davon entfernt, wirklich souverän oder zufrieden zu sein, aber du musst dich nicht mehr verstellen, hast weniger Angst vor der Reaktion anderer und hilfst sogar Menschen dabei, sich selbst besser zu verstehen. Du bist zwar noch auf der Suche nach vielen Dingen – Liebe, Beständigkeit, dauerhafter Antrieb, Erfolg – aber wenn wir ehrlich sind, ist dein Leben jetzt, circa 10 Jahre später, nicht annähernd mit dem zu vergleichen, was es mal war. Es ist besser.

1 Kommentar

  1. Nichts ist für die Ewigkeit, nichts bleibt wie es war, nur die Introversion ist schon lange lange da…

    Das war so das Gefühl was spontan hoch kam…

    Cooler Artikel… Ich finde mich da total wieder und bin froh, dass ich nicht alleine bin mit solchen Gedanken und Gefühlen…

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