Ich bin gerne allein, aber nicht einsam: Wieso geht das?

Wenn jemand sagt, dass er oder sie gerne alleine ist, dann löst das für gewöhnlich eine negative oder zumindest eine skeptische Reaktion aus. Gerne alleine sein – wie soll das denn gehen? Sofort kommt die Vermutung: Das stimmt etwas nicht.

In Wahrheit ist das Bedürfnis nach Zeit ohne andere Menschen ziemlich normal. In sozialen Situationen – mit Freunden, Kollegen, Fremden oder auch der Familie – interagieren Menschen, spielen Rollen und kommen nicht zur Ruhe. Als Dauerzustand kann das belastend sein.

Allein aber nicht einsam sein, heißt, dass man auch ohne Menschen um sich herum zufrieden sein kann. Während introvertierte Menschen das häufig „automatisch“ können, leiden vor allem Extrovertierte unter dem Alleinsein. Deshalb nehmen sie an, dass auch alle anderen Menschen immer einsam sind, wenn sie alleine sind, was nicht stimmt und sogar schädlich sein kann. Glücklich und allein ist kein Widerspruch!

Einsam sein: ein Mangelzustand

Wer einsam ist, dem fehlt etwas. Es ist körperlich und mental belastend, wenn man das Gefühl hat, dass man sich an niemanden wenden kann. Sowas kann situativ geschehen. Ein besonders schlechter Tag auf Arbeit geht zu Ende und keiner ist erreichbar – das ohnehin schon negative Gefühl wird dadurch befeuert, dass niemand erreichbar ist und somit niemand helfen kann.

Aber auch generell kann es schaden, wenn man weiß, dass man alle Höhen und Tiefen des Lebens mehr oder minder alleine durchmachen muss. Dann muss nicht mal etwas passieren, um sich einsam zu fühlen, es gibt einfach ein ständiges Gefühl der Anschlusslosigkeit und der Unvollständigkeit.

Wichtig: Selbst dann, wenn man auf einem Konzert von Tausenden Menschen umgeben ist oder auf einer Party mit Freunden feiert und singt, kann man sich einsam fühlen. Nicht die Anzahl der Personen ist wichtig, sondern wie verbunden man sich ihnen fühlt. Auch wichtig: Nicht jeder Mensch muss diese Verbundenheit permanent erleben.

Das ist gemeint, wenn man sagt, dass alleine sein nicht einsam sein bedeutet. Einsamkeit entsteht, wenn die Zeit alleine negativ empfunden wird, weil etwas fehlt. Viele Menschen genießen es jedoch, alleine und für sich zu sein. Sie ziehen daraus sogar Kraft (mehr dazu: So gewinnen und verlieren Introvertierte Energie).

Wann ist allein sein ein Problem?

Bevor es darum geht, warum alleine zu sein, ohne Einsamkeit zu spüren, so wichtig ist, muss deutlich gesagt werden, dass allein sein durchaus auch für diejenigen negativ sein kann, die eigentlich eher introvertiert veranlagt sind.

Denn nur, weil einige Menschen lieber alleine sind, heißt das nicht, dass sie vor Einsamkeit gefeit wären. Zu viel alleine zu sein, kann damit einhergehen, dass man sich nach und nach abgehängt fühlt. Neue Kontakte knüpfen, wird schwieriger. Beziehungen zerbrechen.

Selbst diejenigen, die grundsätzlich kein Problem damit haben, ihre eigene Gesellschaft zu genießen, müssen aufpassen, dass der Rückzug nicht in völlige Isolation umschlägt. Denn das öffnet Tür und Tor für Einsamkeit. 99,9 Prozent der Menschen brauchen soziale Kontakte, um glücklich zu sein. Was in diesem Beitrag (und auf dem gesamten Blog) allerdings widerlegt werden soll, ist die Annahme, dass mehr immer besser ist. Ja, sozialer Anschluss ist wichtig, aber das sieht nun mal nicht für jeden gleich aus.

Einige Menschen sind sehr zufrieden mit zwei Freunden, lockeren Arbeitskontakten und einer festen Beziehung. Andere brauchen zehn gute Freunde, müssen auch nach Feierabend mit den Kollegen noch Kontakt halten und sind ohne eine große Familie nicht zufrieden. Somit kann die Frage, wie viele Kontakte man braucht, um nicht einsam zu sein, auch überhaupt nicht für alle Menschen beantwortet werden.

ich bin gerne alleine und nicht einsam

Wann ist alleine sein kein Problem?

Solange eine Person nicht isoliert ist und darunter leidet, ist alleine zu sein auch kein Problem. Deshalb muss auch jeder die eigenen Bedürfnisse erst einmal erforschen. Ein kurzer Crashkurs: Extrovertierte Menschen fühlen sich mit vielen Sozialkontakten wohl und ziehen daraus Energie und Zufriedenheit. Introvertierte Menschen verlieren durch Sozialkontakte eher Energie – gewinnen sie aber in ruhigen Situationen und durch Zeit alleine wieder zurück.

Das ist natürlich vereinfacht dargestellt. Sehr wichtig ist jedoch Folgendes: Niemand ist zu 100 Prozent introvertiert oder extrovertiert und andere Faktoren wie psychische Gesundheit, Erfahrungen oder kultureller Hintergrund beeinflussen die Bedürfnisse ebenfalls.

Alleine aber nicht einsam sein – das bedeutet einfach, dass die Bedürfnisse nach Nähe, Verbundenheit und Kontakt grundsätzlich befriedigt sind und somit während des Alleinseins keine negativen Emotionen auftreten. Außerdem ist wichtig, dass man bereit ist, sich selbst zu beschäftigen und zu schätzen. Genau damit haben viele Menschen noch zu kämpfen.

Ich bin allein, aber ich bin nicht einsam

Es braucht also zwei wesentliche Dinge, um sich nicht einsam zu fühlen, wenn man alleine ist: Man muss wissen, dass man jederzeit wieder Kontakt haben kann. Freunde, Familie oder ein Partner sind Teil des Lebens, man entscheidet sich jedoch dafür, auch ohne sie Zeit zu verbringen und zu genießen. Da man aber weiß, dass sie da sind, entstehen keine Ängste oder Unzufriedenheit.

Die zweite Sache: Man muss etwas mit sich selbst anfangen können. Wer permanent von Menschen umgeben ist, der verlernt möglicherweise, wie es ist, keinen ständigen Austausch zu haben. Introvertierte haben hier den Vorteil, dass sie ohnehin Rückzug brauchen und somit (bewusst oder unbewusst) längst gelernt haben, das Zeit alleine nichts Schlechtes ist.

Lesen, schreiben, meditieren – das sind Dinge, die ohnehin meist alleine gemacht werden. Oft können selbst extrem soziale Menschen diese Dinge tun, ohne sich sofort einsam zu fühlen. Der Clou ist, dass Menschen, die gelernt haben alleine zu sein, aber auch viele andere Dinge alleine machen und sich dabei wohlfühlen.

Typische Tätigkeiten, die Menschen gerne alleine machen:

  • Spazieren
  • Kochen
  • Musik hören
  • In den Urlaub fahren

Die ersten drei Dinge fallen noch in die Kategorie „Kann man auch alleine machen, muss man aber nicht“. Doch in den Urlaub fahren? Das könnten sich die meisten Menschen nicht als Solo-Tätigkeit vorstellen. Hier die steile These: Nicht alleine fahren zu wollen, ist okay, aber nicht alleine fahren zu können, ist problematisch.

Ja, es macht den allermeisten Menschen mehr Spaß, mit Freunden, dem Partner oder der Familie zu reisen. Doch wer grundsätzlich Angst davor hat, alleine überhaupt nicht klarzukommen, der ist möglicherweise zu abhängig. Die Frage „Wer bist du, wenn du keine Rolle spielst?“ können diese Menschen schwer beantworten.

Menschen in sozialen Situationen spielen Rollen

Es ist total normal, dass Menschen in Rollen schlüpfen. Sofort schrillen bei einigen die Alarmglocken: Hey, hey, hey, mit meinen Freunden bin ich immer ehrlich und genau so wie ich sein möchte! Sehr gut. Das ist toll, ändert aber nichts daran, dass Menschen ihr Verhalten (fast immer) an ihre Umgebung anpassen. Mit einem Freund wird anders geredet als mit einem Partner. Gegenüber einem Kollegen zeigt man sich weniger offen als gegenüber Familienmitgliedern. Einem potentiellen Partner präsentiert man eine andere Seite an sich als einem Fremden.

Das heißt auch: Wer immer nur von Menschen umgeben ist, schlüpft permanent in Rollen. Und für Menschen, die das schon lange so machen, kann der Gedanke an das Alleinsein belastend sein (und somit zu Einsamkeit führen), weil sie nicht mehr wissen, wer sie sind, wenn keiner zuschaut.

Gut mit Menschen zu können und überall Anschluss zu finden, ist praktisch eine Superkraft. Kaum jemand würde die Fähigkeit nicht haben wollen. Dann muss man aber auch sagen, dass es eine Superkraft ist, sich nicht überall einfinden zu müssen, sondern zufrieden sein zu können, wenn niemand zuschaut, hilft oder spricht.

Zufriedenheit schützt vor Einsamkeit

Sich unabhängig von anderen Menschen gutfühlen zu können, sollte weit oben auf der Prioritätenliste der Persönlichkeitsentwicklung stehen. Das schützt nicht grundsätzlich vor Einsamkeit – wie gesagt, es müssen trotzdem Menschen vorhanden sein, die das Gefühl von Zugehörigkeit und Nähe liefern können. Aber es ist ein wichtiger Baustein.

Wie bereits in Artikeln wie „Lieber allein als unter Menschen“ und „Ich will alleine sein und meine Ruhe haben“ beschrieben wurde, sollte sich niemand komisch fühlen, weil er sich zurückzieht. Ein großer Teil der Bevölkerung braucht das geradezu. Doch neben der Akzeptanz dieser Bedürfnisse nach Ruhe und Stille, sollte auch darüber diskutiert werden, welche Vorteile jeder Mensch daraus ziehen kann.

Gemeint ist damit nicht, dass sich Menschen, die zufrieden mit ihrem Sozialleben sind, plötzlich isolieren sollen. Es ist auch nicht so, dass jeder Mensch, der alleine sein kann, auch gleichzeitig zufrieden und glücklich ist. Gezeigt werden soll, dass allein aber nicht einsam zu sein, durchaus als Superkraft gesehen werden kann, die man jederzeit hervorrufen können sollte. Manch einer will den halben Tag alleine sein, manch anderer nur eine Stunde am Tag.

Alle Menschen sollten ihre Grenzen und Bedürfnisse austesten. Sonst läuft man auf Autopilot und vergisst möglicherweise, was es heißt, alleine aber nicht einsam zu sein. Das kann negative Folgen haben, weil man sich verloren oder gar fremdgesteuert fühlt.

allein heißt nicht einsam

Warum fühlen sich manche Menschen nicht einsam, wenn sie alleine sind?

Jetzt noch ein paar Erklärungen für diejenigen, die all das gelesen haben und sich fragen: Ja, aber wie geht denn das? Die Antwort: Man muss die Sache und Zeit an sich genießen. Ja, der soziale Aspekt kann eine Tätigkeit noch verbessern. Aber es ist unglaublich schade, wenn sie ohne den sozialen Aspekt wertlos wird. Das klingt noch etwas abstrakt, daher nun ein paar praktische Beispiele.

Spazieren gehen: Mit Freunde zu wandern oder einen Spaziergang zu machen, heißt, sich zu unterhalten, während man gleichzeitig draußen an der frischen Luft ist und wichtige Bewegung bekommt, die guttut. Alleine zu spazieren, heißt, draußen an der frischen Luft zu sein, wichtige Bewegung zu bekommen und den Geist wandern zu lassen. Es muss sich nicht auf eine andere Person konzentriert werden, Gedanken müssen nicht in Sätzen ausformuliert werden und man muss sich mit niemandem abstimmen. Freiheit und Ruhe sind die Folge.

Zu Hause sein: Wohnt man mit Menschen zusammen, dann begegnet man sich auf dem Flur, kocht gemeinsam oder hilft sich gegenseitig. Das hat Vorteile – man kann negative Gedanken loswerden, sich ablenken, Erfahrungen teilen. Nachteilig wirkt sich aus, dass man Rücksicht nehmen muss, nicht immer selbst bestimmt, was man tut, und möglicherweise Selbstständigkeit verliert. Alleine zu wohnen, heißt auch, sich um alles selbst kümmern zu müssen (und zu dürfen) und somit Gestaltungsfreiheit zu haben.

Alleine ins Kino gehen: für viele Menschen unvorstellbar. Doch wer gerne Filme guckt (vielleicht auch analysiert und bewertet), der kann das tun, ohne dabei mit jemandem zu sprechen (Anmerkung: Während des Films zu reden ist ohnehin ein Unding). Auch hier gilt, dass darüber zu reden und mit anderen Kontakt zu haben die Erfahrung verbessern kann – aber eben nicht muss. Der „Trick“ ist ganz einfach, dass das Gucken des Films an sich den Hauptfokus hat. Wer die Tätigkeit in den Vordergrund stellt, kann sie immer genießen.

Abschließende Worte über die Superkraft des Alleinseins

Wenn man Ruhe, die eigenen Gedanken, Kreativität und Selbstständigkeit genießt, dann genießt man automatisch auch Zeit allein und kann glücklich sein. Und jeder sollte das ausprobieren. Gerade bei Extrovertierten (aber auch bei einigen Introvertierten) wird das Fazit wahrscheinlich sein: Klar kann ich kochen, leben, spazieren, reisen oder ins Kino gehen auch ohne andere Menschen, aber mit ihnen macht es mir mehr Spaß.

Es ist jedoch sehr beruhigend, wenn man weiß, dass das Leben auch funktioniert, wenn gerade niemand Zeit hat. Das schützt – in einem gewissen Maße – vor Einsamkeit. Eine Ausrede für komplette Isolation sollte das nicht sein. Nur weil man gut alleine sein kann, heißt das nicht, dass man es ständig sein sollte. Und nur weil man gerne mit Menschen zusammen ist, heißt das nicht, dass man es ständig sein sollte. Übrigens: Zu diesem Thema durfte ich mit MDR Sputnik sprechen: Podcast über das Alleinsein.

4 Kommentare

  1. Schön zusammengefasst. Die Frage, die ich mir am meisten stelle, ist die, wie die beste Dosis von allem aussieht. Ich liebe es als Single zu leben und daheim alles so zu gestalten, wie es mir gefällt. Sowohl was die Einrichtung anbelangt, als auch die Beschäftigungen. Auch wenn ich mich nicht einsam fühle mache ich mir dennoch ab und zu Gedanken, ob ich nicht sozialer sein sollte.

    Im Alter könnte es schwieriger werden, wenn man mehr auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist. Bis dahin werde ich aber wohl tatsächlich weiterhin alleine ins Kino gehen 🙂

  2. Ein spitzen Artikel, nebst interessanten Aspekten, mit diesen ich mich gedanklich auch schon lange beschäftige!
    Ich nehme immer mehr wahr, dass viele Menschen ein Problem mit dem Alleinsein haben. 
    Menschen die zurückgezogen leben, müssen sich oft Fragen nach ihrer Eudämonie gefallen lassen. 
    Des Weiteren beschäftigt mich die Frage, wie es dazu gekommen ist, dass wir einen kulturellen Punkt erreicht haben, wobei Autonomie einen hohen Stellenwert einnimmt, während viele Angst davor haben, mit sich allein zu sein?
    Meiner Erkenntnis nach, leben wir in einer beschleunigten Kultur, die ein hohes Selbstwertgefühl nach außen, als Indiz für persönliche Eudämonie betrachtet.
    Allerdings scheint jemand verdächtig, wenn er für sich die Methode Alleinsein anwendet. 
    Auch nehme ich wahr, dass unsere Gesellschaft ein Autonomierecht für sich in Anspruch nimmt, jedoch Menschen die diese Freiheit autonom nutzen, für „komisch oder einsam“ bezeichnet werden.
    Hierzu müsste erst einmal grundsätzlich definiert werden, wieviel Alleinsein als „zu viel“ betrachtet wird.
    Es ist für mich schlichtweg nicht nachvollziehbar, weshalb viele Menschen sich „anmaßen“, über eine andere Person mehr zu wissen als man selbst, aber wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht so genau. 
    Es macht schließlich einen Unterschied, ob jemand gerne viel Zeit mit sich alleine verbringt oder auf eine einsame Insel zieht – bekanntlich ist alles relativ ….

  3. Ich habe Alleinsein schon immer gebraucht. Das ging damit los, dass ich als Kind in der ersten winzigen Wohnung meiner Familie eine Ecke zwischen zwei Schränken nur für mich zum Rückzug bekam, über dass ich im Austauschjahr im Internat in Dänemark immer Zeit für Spaziergänge zum Meer brauchte, bis dahin dass ich heute sehr gerne alleine Urlaub mache, am liebsten mit dem Rad und mir Ausstellungen, Museen und Sehenswürdigkeiten gerne alleine und in Ruhe anschaue.

    Ohne eine gewisse Zeit Alleinsein am Tag, kann ich Sozialkontakte auch wichtige und schöne nicht genießen. Das manchen Menschen das schwer fällt, muss ich mir immer erst bewusst machen.

    • Hi,

      das kenne ich nur zu gut! Die Qualität der Sozialkontakte kann nur hoch sein, wenn für uns Introvertierte der entsprechende Ausgleich an anderer Stelle stattfindet.

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