Reservierte Menschen: Woher kommt die Zurückhaltung?

Ein aufgeschlossener und glücklicher Mensch zu sein, gilt in der modernen Gesellschaft als erstrebenswert. Sich zurückzuhalten, sein eigenes Ding zu machen oder erst einmal Vorsicht walten zu lassen, wird hingegen etwas komisch beäugt.

Das wissen reservierte Menschen nur zu gut. Da sie weder das Rampenlicht suchen noch mit jedem befreundet sein wollen, bleiben sie oft im Hintergrund – wortwörtlich, weil sie woanders stehen, oder nur durch ihre besondere Art. Aber warum ist Reserviertheit ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal und wie geht man mit Menschen um, die kühler und weniger aufgeschlossen wirken?

Reserviert sein oder reserviert wirken: Die Unterscheidung ist wichtig

Bevor es darum geht, die Ursachen und Folgen von Reserviertheit zu beleuchten, muss klargestellt werden, dass es einen Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung geben kann. Einige Menschen halten sich selbst für zurückhaltend und stören sich daher nicht an dem Begriff reserviert. Andere wollen gerne offener sein, nehmen sich nicht als reserviert wahr und verstehen die Wirkung nicht, die sie auf andere haben.

Deshalb wirkt man reservierter, als man ist

Wer von Natur aus eine eher zurückhaltendere Art vorweist, der lebt sein ganzes Leben ruhiger und weniger aufgeschlossen. Daran ist nichts falsch. Aber wenn wir etwas als natürlich wahrnehmen, fällt uns manchmal nicht auf, dass andere Menschen anders denken.

Somit kann es für eine Person total normal sein, nur ein kurzes Lächeln zur Begrüßung von Fremden abzugeben. Anderen wäre das zu stoisch oder kühl. Die reserviert wirkende Person denkt sich nicht viel dabei – warum sollte man einen Fremden lange und falsch anlächeln? Höflichkeit wurde doch erreicht? Aber für alle anderen im Raum (oder Leben) erscheint es so, als würde die Person einfach nicht offen genug auf Leute zugehen.

Typisch ist auch, aus einem anderen sozialen oder kulturellen Kreis zu stammen, in dem Zurückhaltung von vielen gelebt wurde oder wird. Stammt man aus einer Familie, in der man mit lockeren Bekanntschaften Small Talk gemacht hat, ihnen aber keine Geheimnisse anvertraut hätte, wird man im Leben überrascht sein, wenn plötzlich überall Umarmungen, emotionale Ausbrüche und persönliche Gespräche stattfinden – zwischen Menschen, die weder verwandt, verliebt noch beste Freunde sind?! Absurd!

Ähnliche Beschreibungen für Zurückhaltung

Die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung ist wichtig, um zu wissen, ob man etwas ändern möchte. Vielleicht ist es gerade der Begriff reserviert, der jemandem böse aufstößt. Er wirkt etwas altbacken und in einigen sozialen Kreisen gilt er sogar als eine harsche Kritik.

Reservierte Menschen werden auch als kühl, zurückhaltend, unzugänglich, schroff oder introvertiert beschrieben. Wenn du als reserviert giltst oder mit einer reservierten Person sprichst, dann passe auf, nicht zu negativ zu werden. Reserviertheit ist grundsätzlich weder gut noch schlecht, somit muss sich mit Wertungen zurückgehalten werden.

reservierte menschen verstehen
Auch, wenn reservierte Menschen bestimmte Eigenarten teilen, sind sie nicht alle gleich.

Warum sind manche Menschen reserviert?

Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass jemand nicht nur reserviert wirkt, sondern auch ist. Somit geht es nicht nur um Situationen, in denen Zurückhaltung für viele Menschen normal ist. Ein erstes Date, eine Firmenfeier, eine Party – Situationen, in denen ruhigere Persönlichkeitstypen ohnehin erst einmal Vorsicht walten lassen, sind also nicht gemeint. Es geht eher darum, warum Menschen ihr (soziales) Leben grundsätzlich mit angezogener Handbremse leben und weniger von sich preisgeben.

Von Natur aus anders

Bei all den Bemühungen, allen Menschen die gleichen Chancen und Rechte zu ermöglichen, geht manchmal ein wenig unter, dass jeder Mensch mit gewissen Voraussetzungen geboren wird und die frühen Kindesjahre noch einmal sehr, sehr stark prägen. Während viele Dinge wandelbar bleiben (z.B. Lebenseinstellung), gibt es auch genug Merkmale, die ihren Ursprung in der DNA, Hirnstruktur und Veranlagung haben.

Verschiedenste Persönlichkeitsklassifizierungen versuchen das festzuhalten. Myers-Briggs zum Beispiel. INTJs oder ISTJs sind einfach nicht dafür gemacht, jeden mit offenen Armen zu empfangen oder auf emotionaler Ebene mit jedem eine Verbindung aufzubauen. Sie könnten es theoretisch, aber dann würden sie sich gegen ihre Natur wehren. Reserviertes Verhalten fühlt sich somit einfach „normal“ an.

Angelernte oder logische Reserviertheit

Wie bereits angesprochen wurde, kann die reservierte Art auch Folge des Kulturkreises oder der Erziehung sein. Wer aufgeschlossenes und emotionales Verhalten bei anderen selten oder nie beobachtet, wird es sich wahrscheinlich auch nicht aneignen.

Somit können reservierte Eltern auch ruhigere und zurückhaltendere Kinder hervorbringen. Es kann auch sein, dass ein junger Mensch für seine reservierte Art gelobt wird und sie deshalb beibehält. In einem Haushalt mit vielen Kindern bekommt ein ruhigeres Kind vielleicht positives Feedback dafür, kein Chaos zu veranstalten. Also wird diese Besonderheit zu einem Teil der Persönlichkeit.

Irgendwo zwischen „von Natur aus“ und „erlernt“ gibt es noch die Menschen, die durch ihre physischen Voraussetzungen stark dazu neigen, eine reservierte Art zu entwickeln. Menschen mit Autismus sind beispielsweise häufig reizempfindlich – Zurückhaltung ist ein Schutzmechanismus. Das gilt auch für hochsensible Menschen, die sich bei zu viel Menschenkontakt und Aufregung schnell überfordert fühlen können.

Eine bewusste Entscheidung

Manche Menschen wollen einfach nicht mit jedem gut können oder viel von sich preisgeben. Daher entscheiden sie sich bewusst dafür, im Zweifel zu schweigen und sich nur wenigen oder gar keinen Menschen zu öffnen. Auch das sollte man akzeptieren.

Allerdings ist bei diesen Menschen auch am ehesten ein Wandel zu erwarten – wenn sie es denn wollen! Sich für oder gegen einen kühleren Umgangston und stoische Beziehungen zu entscheiden, ist meist ein Prozess. Zumal es nicht die eine perfekte Definition von reserviert gibt und situativ immer auch anders gehandelt werden kann.

reserviert wirken
Eine reservierte Person sieht nicht immer gleich aus – manchmal verändert sie ihre Farben wie Blätter im Wechsel der Jahreszeiten.

Umgang mit reservierten Persönlichkeiten

Reservierte Menschen lösen fast immer eine bestimmte Reaktion in ihrem Umfeld aus: Herausforderung angenommen! Jemanden aus der Reserve zu locken, ist ein beliebter Zeitvertreib. Das ist nicht grundsätzlich falsch – denn viele Menschen brauchen das. Es ist aber auch nicht grundsätzlich richtig – denn vielen Menschen gehst du damit einfach nur richtig auf den … Keks.

Du musst sie nicht ändern

Sprich mir nach: Du musst reservierte Menschen nicht retten. Verstanden? Wenn jemand an seiner Zurückhaltung arbeiten möchte, darfst du gerne unterstützen. Aber du hast diese Entscheidung nicht zu treffen.

Der ständige Versuch, ruhigere, introvertierte oder eben reservierte Menschen zu mehr Offenheit oder sozialer Verträglichkeit zu bewegen, hinterlässt ordentlich Spuren. Keine guten Spuren. Denn das Feedback, das du jemandem gibst, den du für „zu reserviert“ hältst, sieht so aus: Deine Persönlichkeit ist schlecht, du musst was ändern.

Und das ist halt Quatsch. Es gibt 1 Million Charaktereigenschaften, die du als negativ sehen kannst, Hinterhältigkeit oder Rücksichtslosigkeit zum Beispiel. Aber nur, weil jemand nicht ganz deinen Offenheitsstandards entspricht, solltest du ihn nicht unter Druck setzen oder als minderwertig klassifizieren. Das ist nicht deine Aufgabe.

Du wirst Zeit brauchen

Vielleicht willst du eine reservierte Person ja nicht grundsätzlich ändern, möchtest sie aber besser verstehen. Dann bringst du hoffentlich Geduld mit. Auch reservierte Menschen öffnen sich (meist) irgendwann, wenn sie jemanden besser kennengelernt haben. Aber das dauert nun mal.

Da viele zurückhaltende Menschen ihr Leben lang negatives Feedback erhalten haben, sind sie meist sehr empfänglich für Menschen, die ihre Art zu schätzen wissen. Du kannst also beispielsweise einen reservierten Menschen um Rat bitten. Oder du verbringst mit der Person Zeit, ohne dabei einen großen Aufriss zu machen. Gemeinsam die Mittagspause verbringen, einen Spaziergang machen oder zusammen einen Film gucken – wenn du mit einer reservierten Person zusammen bist, ohne sie zu mehr Offenheit zu drängen, wird sie ironischerweise mit der Zeit mehr aus sich herauskommen. Nur halt nie so sehr wie die sozialen Schmetterlinge und extrovertierten Alleskönner dieser Welt.

Du bekommst vielschichtige Freunde, Kollegen und Partner geboten

Es lohnt sich fast immer, Reserviertheit zu akzeptieren und zu schätzen. Fast immer: Natürlich gibt es reservierte Menschen, die ziemlich gemein oder unangenehm sind. Aber viele sind eben auch einfach besonders – und kaum jemand nimmt sich die Zeit, genauer hinzuschauen.

Das heißt für dich, dass du unter Umständen einen speziellen Menschen unter der rauen Schale findest, der dir lange Zeit zur Seite stehen wird. Reservierte Personen bekommen oft seltener die Chance, Freundschaften aufzubauen – umso mehr schätzen sie die Kontakte, die sich bilden und die bestehen bleiben.

Reserviertheit verstehen
Reserviertheit und Zuneigung schließen sich nicht aus.

Weniger reserviert wirken: So gelingt es

Die gute Nachricht für alle, die gerne etwas aufgeschlossener wirken wollen: Es ist ziemlich leicht. Normalerweise wollen wir hier auf Wanderlust Introvert nicht zu viele generische Tipps geben, aber in diesem Fall passt es schon. Ich kann dir nicht sagen, ob du deine Reserviertheit tatsächlich ablegen kannst – weil ich nicht weiß, ob sie von Natur aus besteht oder zum Beispiel Teil eines Traumas ist. Wenn es allerdings erst einmal nur darum geht, weniger reserviert zu wirken, na dann los.

Körperhaltung & Ausstrahlung verbessern:

  • Die Arme nicht vor der Brust verschränken.
  • Etwas mehr lächeln.
  • Nicht abseits von Gruppen stehen.
  • Augenkontakt halten (hin und wieder zumindest).
  • Beim Erzählen Gesten nutzen.

Weniger reserviert Verhalten:

  • An Gesprächen beteiligen.
  • Eine persönliche Erfahrung teilen.
  • Anderen Verständnis zeigen.
  • Körperkontakt zulassen oder herstellen (z.B. Umarmung zur Begrüßung).

Mir persönlich stellen sich die Haare bei einigen dieser Tipps auf. Die Sache mit dem Augenkontakt ist beispielsweise nicht gerade eine Stärke von mir – und der Veränderungsdrang hält sich in Grenzen. Aber letztlich hilft es. Nimmt die Umwelt dich als zurückhaltend, kühl oder reserviert wahr, dann können schon kleine Veränderungen für ein bisschen Abhilfe sorgen. Wenn du denn willst.

Fazit: Reserviertheit ist völlig in Ordnung

Persönlichkeit ist unglaublich komplex und niemand ist einfach nur mit dem Wort reserviert zu definieren. Trotzdem reicht schon ein wenig Zurückhaltung in sozialen Situationen, um diesen Stempel zu erhalten. Man kann ihn dann annehmen oder etwas dagegen tun. So oder so sollten wir alle ein wenig Vorsicht walten lassen, damit wir nicht guten Menschen mit einer ruhigeren Art das Gefühl geben, sie wären minderwertig.

2 Kommentare

  1. Hi Jennifer,
    dieser Beitrag von Dir gefällt mir außerordentlich gut!
    Zurückhaltende und kühle Menschen einfach als reserviert zu bezeichnen ist für mich auch nicht weit genug gedacht …
    Ich schließe mich Deinem Standpunkt an:
    „Es gibt keine perfekte Definition von reserviert“
    Viele Grüße Ebi

  2. Als INTJ lebe ich nicht mit „angezogener Handbremse“. Wenn das andere so wahrnehmen ist das nicht mein Problem. Es ist ihre Projektion, ihre Wahrnehmung. Die ist subjektiv. Ebensowenig bin ich ein Empathie-Idiot. Ich nehme Stimmungen schnell wahr, lasse diese aber zur Vordertür rein und zur Hintertür wieder raus. Mein Verlangen nach Gesellschaft ist etwa Faktor 10x kleiner als das von anderen. Das war schon immer so. Für mich selbst wird das eher selten zum Problem. Ich habe aber auch kein Problem wenn jemand anders tickt. Menschen die meinen sie müssen andere ändern sind mir suspekt. Jeder hat ein Recht so zu sein wie er ist und mal ehrlich, abgesehen von gesellschaftlichen Konventionen, hat sich das jemand ausgesucht, der oder die zu sein die sie ist? Ich denke es gibt viele Menschen die die Verbindung zu sich selbst verloren haben. Die sich in einer Rolle oder den Meinungen der anderen verloren haben. Keiner kann dir sagen wer du wirklich bist, im Vergleich zu wem denn?

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