Warum ist die Welt so ungerecht? Den Frust verstehen

Ein Mensch in einer modernen westlichen Gesellschaft zu sein, heißt, ein Versprechen zu bekommen: Vor dem Gesetz sind alle gleich und jeder hat die Freiheit, den eigenen Lebensweg im Rahmen des geltenden Rechts zu bestreiten. Mit anderen Worten: Jeder bekommt eine faire Chance im Leben.

Doch dieses Versprechen wird nicht eingehalten. So etwas wie absolute Gerechtigkeit gibt es nicht. Sie wird immer ausgehandelt und von persönlicher Wahrnehmung beeinflusst. Einige Menschen wollen daher gar nicht von gerecht und ungerecht sprechen.

Das klingt für diejenigen von uns absurd, die eine ungerechte Welt sehen und erleben. Das Ablehnen des Gerechtigkeitsbegriffs mag eine nette Spielerei sein, doch es bringt uns nicht weiter. Denn wenn wir die Welt, die Gesellschaft und unser Leben als ungerecht empfinden, dann hat das Konsequenzen. Wir fühlen uns schlechter, zurückgelassen oder hoffnungslos. Und sehen wir Ungerechtigkeit in der Welt, dann kann das zu Verzweiflung und Sinnkrisen führen.

Im Folgenden wird dir daher nicht ausgeredet, dass die Welt ungerecht ist. Du sollst lediglich ein paar zusätzliche Informationen und Denkanstöße erhalten, um besser zu verstehen, warum dich der Zustand der Welt so frustriert oder traurig macht.

Gerechtigkeit liegt im Auge des Betrachters

Gesellschaften funktionieren besser, wenn alle glauben, die gleichen Chancen zu besitzen. Sonst droht Unzufriedenheit – und Unzufriedenheit ist meist ein Vorbote von Unruhen. Somit liegt es im Interesse von Eliten und Ordnungshütern, Gerechtigkeit als Ideal aufrechtzuerhalten und zu versprechen. Wenn die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt zu lange mit ihrem unverhältnismäßigen Erfolg protzen, frustriert das all diejenigen, die schon mit kleinsten Rechnungen zu kämpfen haben. Möglicherweise bis zu dem Punkt, an dem die Gesellschaft an Stabilität verliert. (In diesem Prozess stecken wir gerade meiner Meinung nach mittendrin.)

Also versuchen wir als Gesellschaft daran zu glauben, dass Gerechtigkeit existiert, obwohl sie selten wirklich gelebt wird. Wir wollen Chancengleichheit, also suchen wir nach ihr. Das Problem dabei: Was du als gerecht empfindest, muss nicht das sein, was ich als gerecht empfinde.

Für einige Menschen ist die Welt gerecht, wenn alle die exakt gleichen Startbedingungen aus wirtschaftlicher Sicht haben. Für andere ist Gerechtigkeit dann möglich, wenn jeder Mensch ausschließlich an seiner tatsächlichen Leistung gemessen wird. Wieder andere wollen lediglich die Belohnung guter Taten und die Bestrafung schlechter Taten sehen. Was deine persönliche Definition von Gerechtigkeit ist, bestimmt, wieso du die Welt aktuell als ungerecht wahrnimmst.

das leben ist nicht fair

Warum es okay ist, die Welt ungerecht zu nennen

Weil es keine „objektive“ Gerechtigkeit gibt, glauben viele Menschen, dass wir auch keinen Anspruch darauf haben, uns über Ungerechtigkeit zu beschweren. Das ist ziemlicher Unsinn, denn es ignoriert völlig die Bedeutung moralischer Werte, das Aushandeln gesellschaftlicher Normen und die persönlichen Überzeugungen, die sich durch Diskurs bilden.

Somit muss klar gesagt werden: Wenn dich der Zustand der Welt oder deines persönlichen Umfelds frustriert, dann ist das völlig in Ordnung. Wie gesagt, dir wurde und wird suggeriert, dass Menschen vor dem Gesetz gleich sind und Chancengleichheit ein gesellschaftliches Ideal ist. Wenn du dann gegenteilige Entwicklungen und Situationen siehst – beziehungsweise Erfahrungen machst –, kann das frustrierend sein.

Und dabei ist es auch unerheblich, ob du gerade von Ungerechtigkeit profitierst oder nicht. Liest du dies als deutscher Staatsbürger, hast du mit großer Wahrscheinlichkeit bessere Startbedingungen im Leben gehabt als jemand aus Bulgarien. Hast du eine staatliche Schule besucht, stehst du hinter den allermeisten zurück, die auf einem Eliteinternat waren. Weder eine privilegierte noch eine nachteilige Lebenssituation bestimmen, ob du die Welt als ungerecht sehen kannst oder nicht. Hier geht es um die Wahrnehmung.

Persönliche und gesellschaftliche Ungerechtigkeit

Bevor es darum geht, Ungerechtigkeit neu zu denken und somit besser damit umgehen zu können, muss noch einmal ein wenig auf die Ursachen geschaut werden. Die Welt wirkt ungerecht – aber manchmal geht es auch nur um eine einzelne Situation, die wir als unfair empfinden. Eine Unterscheidung ist angebracht.

Die ungerechte Welt

Mit Ausnahme der besonders dreisten Menschen dieses Planeten müssen wir wohl alle zugeben, dass die Welt an sich weder fair noch gerecht ist. Keine göttliche Intervention ermöglicht Fairness und der Kapitalismus sorgt sich um Chancengleichheit definitiv nicht.

Dinge, die wir als ungerecht wahrnehmen:

  • Bei einem Autounfall stirbt ein Kind, während der Unfallverursacher überlebt.
  • Manche milliardenschweren Unternehmen zahlen weniger Steuern als Vollzeit arbeitende Privatpersonen.
  • Gute, hilfsbereite Menschen werden belächelt, während radikale, rücksichtslose Menschen gefeiert werden.
  • Manche Menschen erben so viel Geld, dass sie niemals arbeiten müssen.
  • Manche Menschen nehmen am gesellschaftlichen Leben mit all seinen Vorteilen teil, obwohl sie nicht arbeiten und keinen Beitrag leisten wollen.
  • Während in Deutschland Lebensmittel weggeworfen werden, verhungern Menschen in anderen Teilen der Welt.

Diese Liste könnte noch um hunderte Punkte erweitert werden. Es ist geradezu tragisch, wie viele Beispiele auf Anhieb zu finden sind. Sie alle tragen dazu bei, dass wir nun mal nicht das Gefühl haben, dass Gerechtigkeit herrscht. Denn im Normalfall erhoffen wir uns (oder erwarten sogar) Chancengleichheit und Gleichbehandlung. Beides ist niemals vollständig zu erreichen (dazu gleich mehr).

Unfaire persönliche Verhältnisse

Oftmals vermischen wir die Idee, dass die Welt ungerecht ist, mit der Wahrnehmung, dass unser eigenes Leben ungerecht ist.

In der Schule bekommt jemand eine gute Note für ein gut vorgetragenes Referat, das aber fachlich ziemlich mies war – und du bekommst die gleiche Note, obwohl du fachlich einwandfrei gearbeitet hast. Dein Nachbar hat reiche Verwandte, arbeitet nur Teilzeit und reist jedes Jahr an die schönsten Orte der Welt, während du Vollzeit arbeitest und dir keinen Urlaub leisten kannst. Du bist deinem Partner treu und er betrügt dich.

All das fühlt sich unfair an. Je häufiger uns solche Dinge geschehen, umso mehr sehen wir die ganze Welt als ungerecht an. Oftmals verleitet uns das dazu, die Ungerechtigkeit nur noch zu betonen oder gar heraufzubeschwören. Da ist Vorsicht geboten!

ist das leben ungerecht

Fehlende Gerechtigkeit kann eine gute Sache sein

Nun wurde bereits betont, dass es echte Gerechtigkeit nicht gibt und dass das ein Problem ist. Wir können den Spieß aber auch umdrehen: Wenn es keine festen Regeln für Gerechtigkeit gibt, muss sie auch nicht gefürchtet werden.

Komplexität ist das Stichwort. Es klang schon an: Jemand wird immer nicht kontrollierbare Vorteile gegenüber anderen Menschen haben. Und jeder wird nicht kontrollierbare Nachteile gegenüber anderen Menschen haben. Nahezu jede Situation wird Verlierer hervorbringen, die nichts verbrochen haben. Und nahezu jede Situation wird Gewinner hervorbringen, die dafür moralische Verfehlungen begehen mussten.

Du hast nur die Möglichkeit, einen Gerechtigkeitsrahmen für dich selbst zu schaffen. Damit ist gemeint, dass du bestimmst, was für dich fair und gut ist – und was nicht. Danach lebst du dann selbst und du setzt diese Standards auch bei deiner Umwelt an. Das sind deine persönlichen Standards, die dir keiner wegnehmen kann und die dir eine Stütze sein können.

Wenn dir Gerechtigkeit wichtig ist, fordere sie auch ein. Betrügt jemand beim Kartenspiel? Sprich ihn darauf an und wenn keine Einsicht herrscht, beende das Spiel. Sollst du auf Arbeit ein Projekt praktisch allein erledigen, obwohl alle am Ende das Lob bekommen werden? Fordere Mitarbeit von allen ein. Bist du immer für einen Freund da, der dir aber eigentlich nie zuhört oder zur Seite steht? Dann formuliere deine Erwartungen und wenn sie nicht erfüllt werden, beende die Freundschaft. Im Privatleben ist Gerechtigkeit verhältnismäßig leicht zu fördern.

Was tun gegen Ungerechtigkeit in der Welt?

Ansprüche an sein soziales Umfeld zu haben – und auch an sich selbst –, wenn es um gleiche Chancen und faire Bedingungen geht, ist nur ein Schritt. Und wahrscheinlich sind die kleinen Ungerechtigkeiten im Privatleben auch nicht der alleinige Grund, warum du dich fragst, weshalb die Welt so schrecklich ungerecht wirkt. Der andere Aspekt ist der kolossal miserable Gerechtigkeitsstatus auf dem gesamten Planeten.

Damit umzugehen, ist schwer. Gerade für sehr empathische, hochsensible und introvertierte Menschen scheint das Wahrnehmen von ungerechten Verhältnissen praktisch automatisch zu geschehen. Sie suchen sich nicht aus, Ungerechtigkeit zu sehen und zu fühlen, es passiert einfach.

Zwei Schritte sind extrem wichtig, um nicht am Zustand der Welt kaputtzugehen:

  1. Die Hoffnung auf absolute Gerechtigkeit aufgeben.
  2. Die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit nicht aufgeben.

Wenn du glaubst, dass Fairness und Gleichheit für alle möglich sind, wirst du wieder und wieder enttäuscht. Selbst dann, wenn du nur deinen persönlichen Gerechtigkeitsgedanken als Grundlage wählst. Verbanne also die Vorstellung, dass wir aktuell nur in einem Mangelzustand leben, der eines Tages ja überwunden werden kann.

Aber tu dies nicht auf Kosten des Fortschritts. Mehr Gerechtigkeit ist auf allen Ebenen möglich – in der Welt, in der deutschen Gesellschaft, in deinem sozialen Umfeld, in deinen Beziehungen. Daran musst du schon glauben, um nicht in Hoffnungslosigkeit und Apathie zu verfallen. Auf kleiner persönlicher Ebene kannst du mit deinem Partner eine gerechte Arbeitsteilung im Haushalt aushandeln. Ein paar Ebenen weiter oben sollen Gesetze ermöglichen, dass niemand aufgrund seiner Hautfarbe einen Job nicht bekommt. Das ist alles Fortschritt.

Achtung: Dieser Fortschritt ist ein Prozess. Wir verhandeln auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene, was Chancengleichheit, Unparteilichkeit und Fairness ausmacht. Jeder, der dir eine perfekte Antwort oder Lösung präsentiert, will dir wahrscheinlich etwas verkaufen oder hat sich mit dem Thema in Wahrheit noch nicht allzu sehr auseinandergesetzt. Ich würde dir empfehlen, es besser zu machen und Gerechtigkeitsansprüche als dynamisch zu betrachten.

gerechtigkeit in der welt

Fazit: Ja, die Welt ist ungerecht und unfair, aber du musst es nicht sein

Also, warum ist die Welt so ungerecht? Weil Gerechtigkeit nicht so existiert, wie wir uns vorstellen, und viele auch nicht daran interessiert sind, überhaupt nach ihr zu suchen. Zu viele von uns profitieren von Chancenungleichheit – du, ich, dein Nachbar, dein Chef und eigentlich jeder. Wollen wir dann doch mal etwas mehr Gerechtigkeit einfordern, kommen Kritiker aus ihren Höhlen gekrochen und wollen die Diskussion und den Fortschritt im Keim ersticken.

Bei all der Frustration über den Zustand der Welt dürfen wir nicht vergessen, wie weit wir schon gekommen sind – und diejenigen, die Diskussionen über Gleichbehandlung als unnötig abtun, verstehen ihre Privilegien meist nicht. Einst sollten unser Geschlecht, unsere Hautfarbe, unsere Sexualität oder unsere Herkunft bestimmen, wie weit wir im Leben kommen, ob wir überhaupt leben dürfen und wie viel Freiheit uns zusteht. Wir mögen noch immer mit einigen Problemen zu kämpfen haben, aber immerhin sind wir nicht mehr in diesem „alten“ Zustand. Diesen hätten wir nie überwunden, wenn wir auf diejenigen hören würden, die unsere Frustration über die Ungerechtigkeit der Welt als unnötig, albern, zu sensibel oder unsinnig abtun.

 

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