Die Frage „Warum haben manche Menschen keine Lust mehr auf soziale Kontakte?“ wird von vielen viel zu schnell und definitiv mit zu viel Selbstbewusstsein beantwortet. Vielleicht bist du ja auch so jemand, für den völlig klar ist, dass es genau eine Ursache dafür gibt, dass sich Menschen zurückziehen oder dafür dass sie andere sogar hassen.
„Nur eine soziale Phobie kann der Grund sein.“
„Die Gesellschaft ist einfach zu verdorben – die Schuld liegt also gar nicht bei mir selbst.“
„Es muss ein Trauma sein, nur so erklärt sich Isolation!“
In Wahrheit sind die Gründe dafür, dass jemand keine Lust mehr auf soziale Kontakte hat, so komplex und divers wie die Menschen selbst. Es gibt nicht eine definitive Antwort. Auch nicht zwei oder drei oder zehn.
Was nicht heißt, dass wir nicht mal genauer darauf schauen können, was die typischen Ursachen sind und welche davon total in Ordnung sind und welche eher darauf hindeuten, dass jemand vielleicht in Misanthropie abzudriften scheint. Am Ende kannst du vielleicht besser einschätzen, weshalb du keine Lust mehr auf Menschen hast – und ob das wohl jetzt für immer so sein wird.
Titelbild: Markus Spiske (Pexels)
Ursache Nummer 1: Du bist sozial ausgebrannt
Es kann sein, dass soziale Kontakte dich einfach erschöpfen und stressen. Hochsensible und introvertierte Menschen (sowie viele neurodivergente Menschen) müssen damit tagtäglich klarkommen: Je länger man mit anderen Leuten zu tun hat, umso mehr leert das die soziale Batterie. Und wenn das über Wochen oder Monate ohne echte Pause so weitergeht, dann kommt man einfach an dem Punkt an, an dem es nicht mehr weitergeht.
Das ist dann meist temporär, aber trotzdem verwirrend. Es trifft nämlich auch Menschen, die grundsätzlich sehr freundlich und sozial sind. Sie sind keine Menschenhasser. Somit ist es erst einmal ungewöhnlich, dass sie plötzlich keine Lust mehr auf soziale Kontakte und Menschen allgemein haben.
Die gute Nachricht ist, dass man „nur“ lernen muss, mit der eigenen sozialen Energie zu haushalten. Dann merkt man, dass es nicht darum geht, keine sozialen Kontakte mehr zu haben – sondern darum, die richtigen sozialen Kontakte zu haben. Keine alten, gezwungenen Freundschaften aufrechterhalten, nicht aus Prinzip zu Veranstaltungen gehen, auf die man eigentlich keine Lust hat, und Alleinzeit zur Priorität machen – dann kehrt die Lust auf soziale Kontakte meist nach und nach zurück.
Das gilt auch für diejenigen, die sich zurückziehen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Es ist eine Sache, generell etwas erschöpft von Menschen zu sein – aber noch mal eine andere, wenn man ernsthaft verletzt wurde. Auch dann reagieren einige von uns einfach mit Rückzug. Solange wir uns darin nicht dauerhaft verlieren, ist das einfach eine Art mit negativen Erfahrungen umzugehen.

Ursache Nummer 2: Du hast andere Prioritäten im Leben
Nicht jeder Mensch möchte soziale Erfüllung durch andere finden. Ja, der Mensch ist grundsätzlich dazu veranlagt, in sozialen Verbänden zu leben und sich auf andere zu verlassen. Aber die moderne Welt stützt sich ja nicht mehr auf Dorfgemeinschaften oder Familienverbünde. Also bleiben viele Menschen zurück, denen es an einem festen, verlässlichen sozialen Netz mangelt.
Das ist schade, aber auch etwas, womit man umgehen lernen kann. Indem man sich bestimmte Bedürfnisse eben selbst erfüllt. Wer keine Kinder hat, um seinem Leben Sinn zu geben, der kann auch andere Dinge kreieren. Ein Unternehmen, ein kreatives Werk, eine Veränderung in der Umwelt – auch das bedeutet Erfüllung. Einzelgänger sind nicht grundsätzlich traurig oder müssten gerettet werden, viele sind zufrieden mit sich und ihren Entscheidungen.
Wie bereits erwähnt wurde, können soziale Kontakte auch sehr erschöpfen. Wenn man davon betroffen ist, sind Freundschaften, Liebesbeziehungen und selbst die eigene Familie keine Selbstverständlichkeit. Wer sich wie alle anderen in das Sozialleben stürzen möchte, der wird schnell ausbrennen oder gar depressiv werden. Das heißt nicht, dass man in eine Hütte im Wald ziehen muss – aber es heißt, dass man sich vielleicht dafür entscheidet, seine Zeit woanders anzulegen.
Sport, Reisen, Kunst, Wissenschaft – die Menschheit hat schon immer davon profitiert, dass einige von uns ihr ganzes Leben anderen Dingen widmen als Sozialkontakten. Wer selbstbestimmt sein Sozialleben herunterfährt, der ist oft zufrieden und glücklich, auch dann, wenn andere es nicht verstehen können. Viele von meinen Lesern ticken genau so und suchen nicht mehr nach sozialen Kontakten, weil sie in so vielen anderen Bereichen ihres Lebens schon Erfüllung finden.

Grund Nummer 3: Du hast eine psychische Erkrankungen
Ein Grund, warum viele bei sozialem Rückzug sofort an Isolation und Krankheit denken, ist, dass Depressionen ähnlich aussehen können. Die Betonung liegt auf können, denn nicht jeder Mensch reagiert auf Depression mit Rückzug.
Aber diejenigen, die es tun, sind nicht ernsthaft freiwillig allein. Sozialer Rückzug kann ein Symptom anstelle einer freien Entscheidung sein. Das ist besonders häufig der Fall, wenn Selbsthass ins Spiel kommt. Man sagt vielleicht, man hat keine Lust auf soziale Kontakte, aber in Wahrheit ist es so, dass man nicht glaubt, dass andere einen überhaupt sehen wollen. Man nimmt sich als Belastung oder als Lachnummer wahr. Jedes Treffen mit anderen ist eine erneute Chance, sich schlecht zu fühlen.
Obwohl auch nicht unbedingt Selbsthass zugrunde liegen muss. Auch extrem empathische Menschen können Depressionen entwickeln, einfach, weil sie der Zustand der Welt fertig macht. All der Streit, all die Missgunst, all die Probleme prasseln ungehemmt auf sie ein und sie können nicht verhindern, dass sie alles spüren. Bis auf die Knochen, bis ins Mark. Auch das kann jemanden in die Isolation treiben.
Diese totale Isolation hat sogar einen eigenen Begriff: Hikikomori. Hikikomori ist ein besorgniserregender Trend, bei dem sich junge Menschen nicht mehr aus dem Haus bewegen, sondern praktisch ihr gesamtes Leben in einem Raum verbringen. Besonders in Japan ist das Phänomen bekannt, aber auch in anderen Teilen der Welt scheinen Menschen sich nur noch digital zu vernetzen.
Wie eingangs erwähnt, gibt es keine perfekte Ursache für alles. Man kann auch unter depressiven Phasen leiden und gleichzeitig viel aus seinem Leben machen. Manch einer leidet unter einer sozialen Störung und ist vielleicht auch noch anders erkrankt und deshalb extra erschöpft. Fest steht, dass Isolation aufgrund von Depression zu den ungesunden Ursachen für sozialen Rückzug gehört und Anschluss beziehungsweise Hilfe von anderen wichtig sind. Ironischerweise.
Leider scheinen immer mehr Menschen Isolation als einzigen Weg zu sehen, mit der modernen Welt irgendwie klarzukommen. In diesem Fall kann ich dir nicht weiter helfen, das kann nur jemand, der eine entsprechende fachliche Ausbildung hat. Wenn dir der Gang zu einem Therapeuten aktuell zu „groß“ vorkommt, kannst du dich auch an einen Freund oder deine Familie wenden und um Hilfe bitten. Die Ursachenforschung ist auf jeden Fall wichtig, damit du herausfindest, ob etwas in deiner Vergangenheit dich weiter belastet, ob Autismus oder ADHS eine Rolle spielen oder ob vielleicht auch körperlich etwas nicht stimmt – zum Beispiel beim Hormonhaushalt.

Ursache Nummer 4: Du leidest unter Selbstüberhöhung und Menschenhass
Wer seinen Platz unter Menschen nicht findet, der versinkt in Depression, veränderte seine Sichtweise und lernt ODER er beschließt, dass alle anderen das Problem sind. Letzteres beobachte ich immer mehr. Überall werden nur Feinde gesehen. Alle anderen sind dumm oder verrückt oder fremdgesteuert – nur man selbst (oder der eigene soziale Kreis) ist anders und versteht, was wirklich vor sich geht.
Diese tiefgehende Verachtung für nahezu alle Menschen, vor allem für Wildfremde, die einem nichts getan haben, ist nicht gesund. Es ist erlaubt, so zu denken und zu leben, na klar.
Aber ich weigere mich zu glauben, dass diese Menschen, die sich fast immer mit Drogen wie Alkohol betäuben und ständig einen Puls von 150 haben, Glück oder Zufriedenheit im Leben spüren. Oft ziehen sie sich in Echokammern im Internet zurück – und obwohl sie glauben, sie wären freiwillig von der Gesellschaft zurückgetreten, sind sie in Wahrheit einsam und verloren. Menschen, die zufrieden mit ihren Entscheidungen sind, laufen anderen nicht nach, um ihnen zu sagen, wie sehr sie sie hassen.
Ich wünsche jedem, dass er da wieder rausfindet. Nicht, indem man plötzlich mit jedem befreundet ist oder die Menschheit als Ganzes lieben lernt. Das habe ich auch nicht drauf. Es gibt gute Gründe, genervt und enttäuscht von anderen zu sein.
Aber wenn immer alle anderen das Problem sind und es zur Weißglut treibt, andere Menschen glücklich zu sehen, die einfach nur ihr Leben leben … dann sollte man sich doch echt mal fragen, ob man mit seinen verbleibenden Lebensjahren nicht doch etwas mehr anfangen will, als zu hassen und zu verachten.

Wie erkennst du, ob dein sozialer Rückzug gesund ist oder nicht?
Das hier ist kein Therapieblog. Also keine Ahnung, ob du gesund oder krankhaft keine Lust mehr auf Menschen hast. Oder vielleicht geht es dir auch gar nicht um dich, sondern um einen geliebten Menschen, um den du dir Sorgen machst – ich kann dir auch nicht sagen, ob dein Freund, Partner oder Familienangehöriger einfach anders tickt oder vielleicht leidet.
Die Frage, die man sich meiner Meinung nach stellen sollte, um näher an die Wahrheit heranzukommen, ist folgende: Basiert der soziale Rückzug auf einem unveränderbaren Grundsatz oder ist er dynamisch?
Die Menschen, die sich auf ungesunde Art zurückziehen, haben meist eine feste Idee davon, warum sie das tun müssen und vor allem warum sie das auf ewig so tun müssen. Das kann sich auf sie selbst beziehen – weil sie sich für wertlos halten, müssen sie die Menschheit vor sich selbst bewahren. Oder aber es geht um das Fremdbild: Weil alle Menschen böse oder dumm sind, muss man sich selbst schützen.
Jemand, der sich aus freien Stücken für weniger Menschen im Leben entscheidet, hat meist ein beweglicheres Bild von sich und seiner Umwelt. Nicht alle Menschen sind schlecht und man selbst ist weder perfekt oder verdorben – man lernt noch und verändert sich.
So kommt es nicht zu einer Totalverweigerung. Man sucht vielleicht nicht aktiv nach neuen Kontakten und man ist auch kein Fan der Menschheit – aber man wehrt sich auch nicht gegen neue Sichtweisen und Erfahrungen. Diese Menschen haben eben keine Lust, in soziale Kontakte und Menschen zu investieren, weil sie gerne für sich sind oder anderen Faktoren in ihrem Leben mehr Bedeutung zuweisen. Das kann absolut auf gesunde und nachhaltige Art geschehen.
Diese Unterscheidung zwischen gesundem und ungesundem Rückzug dürfte diejenigen verärgern, die ein unveränderbares Bild von sich selbst oder der Menschheit haben. Noch mal: Ich werde niemandem verbieten, so zu leben. Kann ich ja auch gar nicht und will ich auch gar nicht. Aber ich muss eben auch klarstellen, dass das hier dann nicht der Anlaufpunkt für so eine Weltsicht ist.
Ich persönlich bin extrem kritisch mit mir selbst und meinen Mitmenschen. Ich beobachte mit großer Sorge, wo wir uns als Gesellschaft und Menschheit hin entwickeln. Aber ich werde das nie zum Anlass nehmen, mich als erleuchtetes Wesen zu sehen, das über anderen steht. Ich bin nicht zu gut für andere. Die Welt ist nicht mein persönlicher Feind und sie dreht sich auch nicht um mich.
Mein sozialer Rückzug geschieht aus freien Stücken und manchmal ist er stärker, manchmal schwächer.
Wanderlust Introvert soll denjenigen helfen, die sich etwas verloren fühlen oder die noch was über sich und ihre Art lernen wollen. Es wird nie darum gehen, sich in ein fiktives längst widerlegtes Wolfsrudelschema einzuordnen oder auf Minderheiten rumzuhacken, um sich selbst besser zu fühlen. Wer sich selbst nicht mag, solange er andere nicht heruntermacht, der mag sich in Wahrheit nicht selbst. Das ist eine billige Abkürzung und macht die Welt zu einem schlechteren Ort. Daran will ich keinen Anteil haben. Und diese Menschen verzerren eben auch das Bild von Introvertierten und Einzelgängern, die einfach nur ihr Ding machen wollen und irgendwann festgestellt haben: Man, ich habe echt keinen Bock mehr auf Menschen, ich kümmere mich jetzt um andere Dinge.
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Bitte teile deine Gedanken und Erfahrungen – nicht ich allein kann helfen, es ist auch der Austausch, der dir und anderen etwas bieten kann.