So fühlt sich eine introvertierte Kindheit an

Die Erfahrungen, die ich als introvertiertes Kind gemacht habe, prägen mich bis heute. Ich habe nicht vergessen, wie es war, als meine ganz natürlichen Bedürfnisse, die ich selbst noch nicht einmal verstanden hatte, als peinlich, lächerlich oder weinerlich abgestempelt wurden.

Introvertierte Kinder in ein extrovertiertes Kostüm zu zwingen, ist keine gute Idee. Und dass dieses Statement auf einige überraschend wirkt oder gar als kontrovers bezeichnet werden kann, ist ein Problem.

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Die schlechten Seiten einer introvertierten Kindheit

Natürlich kann ich nicht für alle Introvertierten sprechen. Aber ich habe neben meiner eigenen Erfahrung auch viele Berichte anderer Menschen gesucht, um mir ein besseres Bild zu machen. Eine der nahezu überall nachlesbaren Erfahrungen ist das Gefühl, nicht richtig zu sein beziehungsweise die Erwartungen der Umwelt nicht zu erfüllen und deshalb Schuldgefühle zu spüren.

Als introvertiertes Kind landen wir genauso im Kindergarten wie die extrovertierten Kinder. Dort ist es laut und unübersichtlich. Viele von uns hatten das Bedürfnis, die Natur zu erforschen oder für uns allein in einer Ecke zu sitzen und mit Spielzeug zu spielen. Vielleicht hatten wir sogar einen Lieblingsfreund oder eine Lieblingsfreundin.

Doch in vielen Kindergärten war und ist es gang und gäbe, dass Gruppenaktivitäten Pflicht sind. Und dass Rückzug als Warnsignal gesehen wird. Das ändert sich auch zu Schulzeiten nicht.

„Warum bist du so still?“

„Stimmt was mit dir nicht?“

„Bist du krank?“

Solche Fragen sind nicht böse gemeint. Aber wenn sie dir gestellt werden, wenn du einfach nur du selbst bist und das Leben eigentlich genießt … was bleibt dann hängen? Richtig, die Message, dass deine natürlichen Bedürfnisse andere stören.

Fun fact: Ich war kein Kind, das als auffallend ruhig wahrgenommen wurde. Klar, in jedem Zeugnis stand, ich müsste mich „mehr am Unterricht beteiligen“. Aber in den Pausen war ich unterwegs, hatte Freunde, keinem fiel da groß was auf.

Aber … schon damals war die soziale Batterie irgendwann leer. Und es ist furchtbar nicht zu verstehen, warum das so ist. Als Kind willst du meist erleben, herausfinden, austesten. Aber nach etlichen Stunden in der Schule war dafür nicht viel Kraft übrig.

Selbst als privates Gefühl, das wir nicht mit anderen teilen, ist das schon unangenehm. Wieso werden wir so müde, grantig und unkonzentriert, wenn wir Freunde treffen? Wenn wir mit der Familie einen Ausflug machen? Wenn wir eigentlich Spaß haben wollen?

Das fühlen wir schon allein für uns. Und dann kommt noch das Echo der Umwelt dazu.

Und dann wird es richtig brutal.

Manch einer mag das als Übertreibung wahrnehmen. Als Jammern und „sich anstellen“. Aber immer wieder zu hören, man müsste anders werden, ist für niemanden gesund. Ich meine: Wir sind uns einig, dass es nicht gut ist, Kindern zu sagen, sie wären dumm. Oder hässlich.

Also warum ist es so gängig, Kindern zu sagen, sie wären zu ruhig, zu verträumt, zu empfindsam?

Ich glaube ja, dass die negativen Rückmeldungen der Umwelt sich deshalb so schlimm anfühlen, weil sie nur selten böse gemeint sind. Unsere Eltern machen sich Sorgen, wenn wir zu viel allein spielen, denn Kinder müssen doch sozial sein. Unsere Lehrer machen sich Sorgen, wenn wir zu ruhig sind, denn Schüchternheit ist ein Nachteil im Leben.

Wenn uns jemand beleidigt, können wir der Person den Finger zeigen und sie als böse abtun. Als jemanden, dem wir nicht zuhören müssen. Aber wenn jemand aus Sorge oder Gewohnheit an uns herumkritisiert, dann sind wir bereit, ihnen zu glauben. Ihre Kritik ernst zu nehmen. Zu verinnerlichen, was ihnen an uns nicht passt.

Zwei Entwicklungen sind typisch für introvertierte Kinder: Einige ziehen sich noch weiter zurück. Ironischerweise entwickeln sie Schüchternheit oder soziale Ängste oft erst, nachdem sie wiederholt für ihre Art und Bedürfnisse heruntergemacht wurden. Ob nun von Erwachsenen oder anderen Kindern.

Die zweite Variante, die bei mir persönlich durchkam: Wir setzen alles daran, nicht introvertiert zu wirken. Wir verschweigen, wie gerne wir Zeit allein verbringen. Schließen Freundschaften, nur um nicht als Einzelgänger zu gelten. Spielen uns auf, um nicht unterzugehen. Und dann wundern wir uns, warum wir uns fremd fühlen, erschöpft sind und Einsamkeit spüren.

Ich weiß nicht, ob du schon mal jemandem begegnet bist, der für seine introvertierte Art keine oder nur sehr wenige negative Rückmeldungen erhalten hat. Jemand, der entweder mit vielen Introvertierten aufgewachsen ist oder einfach als ruhiger akzeptiert wurde.

Diese Menschen strotzen oft nur so vor Selbstbewusstsein und Charisma. Aber eben auf die typisch introvertierte Weise, bei der sie sich nicht aufspielen. Sie wirken unglaublich gefestigt und als würde es ihnen gar nicht in den Sinn kommen, einen auf extrovertiert zu machen.

Man stelle sich vor, alle introvertierten Kinder dürften auf ihre Bedürfnisse hören. Wie viele psychische Probleme und wie viele Selbstzweifel hätten wir auf einen Schlag ausradiert?

introvertierte teenager

Die guten Seiten einer introvertierten Kindheit

Wenn ich hier aufhören würde, würden viele Menschen denken, alle introvertierten Kinder sind schüchterne, depressive Opfer. Das ist nicht mein Stil und wäre auch nicht hilfreich oder wahr. Also widmen wir jetzt noch den positiven Seiten ein paar Worte.

Als introvertiertes Kind ist es verdammt schwer, sich zu langweilen. Weil wir Reize weniger gut filtern, können wir sehr viel schneller Zufriedenheit spüren – durch ein Buch, einen Spaziergang, ein Gespräch, einen Film … Wir brauchen weniger, um uns gut zu fühlen und ziehen aus einer einzigen Erfahrung oft mehr als andere aus dutzenden.

Introvertierte Kinder sind oft super Beobachter. Sie sehen schon früher Dinge, die anderen erst später oder gar nicht auffallen. Oftmals – aber nicht immer – erwächst daraus auch Kreativität. Nicht alle ruhigen Kinder haben dieselben Hobbys, aber Lesen, Malen, Zeichnen, Schreiben, Sport, Wissenschaft – diesen Leidenschaften früher nachzugehen und sich voll auf sie zu konzentrieren, kann Introvertierten langfristig einen Vorteil verschaffen.

In größeren Familien sind introvertierte Kinder oft diejenigen, die weniger Ärger machen. Klar, geht das mit eigenen negativen Folgen einher. Aber erst einmal sind wir Intros oft auch diejenigen, die früher Verantwortung übernehmen dürfen. Diejenigen, die gestressten Eltern das Leben nicht noch schwerer machen.

Einige meiner schönsten Kindheitserfahrungen haben im kleinen Kreise der Familie stattgefunden. Oder aber an den Tagen, an denen ich allein durch die Wälder gestreift bin und mir abenteuerliche Geschichten ausgedacht habe. Was ich übrigens bis heute mache.

So wichtig es auch ist, über die negativen Erfahrungen zu sprechen, die Introvertierte machen, wir dürfen nicht zu schlecht darüber denken. Es geht nicht nur darum, schlechte Erfahrungen zu minimieren, sondern auch darum, die guten hervorzuheben und zu schätzen.

introvertierte kinder

Was wir ändern müssen

Während es gute Argumente dafür gibt, schüchternen Kindern zu helfen, weniger schüchtern zu sein, fehlen mir die Argumente dafür, introvertierten Kindern die Introvertiertheit auszutreiben. Das geht nämlich auch gar nicht. Wenn es so einfach wäre, dass wir uns nur mal ein bisschen anstrengen müssten, meinst du nicht, dass Introvertiertheit längst Geschichte wäre? Würden Kinder nicht instinktiv ihre vielkritisierte Persönlichkeit gegen eine tauschen, die weitläufig akzeptiert wird?

Eltern, Lehrer, Erzieher und eigentlich alle Menschen müssen nur verstehen, dass Introvertiertheit keine Krankheit ist. Ist es leicht, zwischen problematischem und natürlichen Rückzug zu unterscheiden? Natürlich nicht. Kinder, die keinen Anschluss finden oder Symptome von Depression zeigen, müssen Hilfe erhalten.

Aber jedes ruhige Kind sofort als Problemkind abzustempeln, funktioniert offenbar nicht sonderlich gut. Nicht mit Bezug auf introvertierte Kinder und seien wir ehrlich: Auch nicht mit Bezug zu Kindern mit psychischen Erkrankungen.

Wenn wir von dem Gedanken wegkommen, dass extrovertiert sein der gewünschte Standard ist, dann können wir endlich anfangen, Persönlichkeitspluralismus lieben zu lernen. Denn wir sind uns doch eigentlich einig: Menschen sind verschieden und das ist auch gut so.

Nur leben wir das zu selten wirklich aus. Und im Erwachsenenalter ist das auch voll okay. Du darfst sagen, dass dir viele Menschen zuwider sind, wegen ihrer Persönlichkeit. Vielleicht stören dich arrogante Menschen oder schüchterne Menschen oder großkotzige Menschen oder konfliktscheue Menschen …

Aber Kinder verdienen besonderen Schutz. Kinder verdienen, dass wir unsere Urteile dazu, welche Eigenheiten wir an jemandem mögen und welche nicht, zurückhalten. Und für das Temperament eines Kindes, das noch deutlich weniger beeinflussbar ist als ein Persönlichkeitsmerkmal, gilt das besonders.

Viele Merkmale, die einen Menschen ausmachen, sind schon teilweise in der DNA verankert. Oder werden in den ganz frühen Lebensjahren gebildet. Das heißt nicht, dass wir uns nicht mehr verändern können. Aber die Chancen stehen gut, dass bestimmte Bedürfnisse stabil bleiben. Zum Beispiel, ob wir viele oder wenige Menschen um uns herum als angenehm empfinden. Ob wir gerne lange über etwas nachdenken oder uns auf Instinkte verlassen. Ob uns Reize wie Lärm etwas ausmachen oder einfach ignoriert werden können.

Manchmal wird mir und anderen Introvertierten vorgeworfen, wir würden zu viel jammern und zu hohe Ansprüche an unsere Mitmenschen stellen. Keine Ahnung, ob diese Kritiker zufrieden wären, wenn ich ihnen jeden Tag sagen würde, dass sie sich bitte zurückziehen sollen und ab sofort keinen Smalltalk mehr machen dürfen.

Die Bedürfnisse anderer zu respektieren, ist nicht zu viel verlangt. Und die Ironie ist ja, dass Introvertierte oft super allein klarkommen und lernen, selbst Rücksicht zu nehmen und Stärken zu entwickeln – sie fordern also gar nichts oder nur wenig von ihren Mitmenschen. Aber diese Selbstfürsorge lernen sie oftmals erst später im Leben, wenn sie überwunden haben, was man ihnen in der Kindheit und Jugend eingeprägt hat.

Umgang mit introvertierten Kindern

Was du persönlich machen kannst

Möglicherweise ist der eine oder andere nun skeptisch, dass es dieses von mir erhoffte Umdenken geben wird. Nun, dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens passiert das schon längst. Als ich vor 5 Jahren mit Wanderlust Introvert angefangen habe, gab es unglaublich wenig Anlaufpunkte für uns Introvertierte – heute sieht das viel besser aus und Aufklärung wirkt.

Mal abgesehen davon, dass mir mittlerweile hunderte Menschen einfach direkt gesagt haben, dass sie sich selbst nun besser verstehen und auch mit ihren Liebsten drüber sprechen, was introvertiert sein bedeutet.

Aber zweitens … ja stimmt schon. Ich bin auch skeptisch. Deshalb wiederhole ich auch zum Schluss einfach noch mal den wohl wichtigsten Satz meines Lebens. Das Konzept wird von verschiedenen Experten genutzt, anders aufbereitet, neu verkauft. Aber es ist so dermaßen simpel, dass es traurig ist, dass ich es erst in meinen späten 20ern richtig verstanden habe:

Sei der Erwachsene, den dein jüngeres Ich gebraucht hätte.

Das ist sowohl im Umgang mit dir selbst als auch mit Fremden wichtig. Schuldgefühle waren in meiner Kindheit und speziell in meiner Jugend ein ständiger Begleiter – wieso bin ich nicht wie andere? Was stimmt mit mir nicht?

Heute versuche ich nachsichtiger mit mir und anderen zu sein. Es hat immer weh getan, wenn andere sich über meine Bedürfnisse lustig gemacht haben. Also versuche ich heute, nicht von oben herab auf die Bedürfnisse anderer zu schauen.

Das ist natürlich ein Prozess. Das dauert und man bekommt es wohl nie perfekt hin. Aber ich glaube, ob man nun ein super glückliches oder unglückliches Kind war, man kann immer als Ziel vorgeben, einfach der Mensch zu sein, mit dem sich dieses Kind wohlgefühlt hätte. Wenn du dich heute mit deinem jüngeren Ich an einen Tisch setzen würdest, könnte das Kind dann frei sprechen und sich wohl fühlen?

Falls ja, dann hast du schon etwas Unglaubliches erreicht. Obwohl man dir weh getan hat, hast du gelernt, dieses Verhalten nicht anzunehmen. Das macht dich genauso wenig perfekt wie mich, aber es ist trotzdem ein sehr beruhigendes Gefühl.

Und es ist etwas, was wir ganz unabhängig davon erlernen können, ob wir introvertiert oder extrovertiert sind. Neurotypisch oder neurodivergent. Logiker oder Gefühlsmensch.

1 Kommentar

  1. Liebe Jennifer,
    was für ein treffender und klasse Artikel aus dem real life mal wieder von Dir!!!
    Es ist immer eine große Freude und Bereicherung für mich Deine Zeilen im Kern anzunehmen und intensiv Nachwirken zu lassen!
    Herzliche Grüße Tina

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