Freiheit bedeutet unter anderem, die Wahl zu haben. Wo wir leben, wie wir leben, womit wir dieses Leben füllen. Die Freiheit der Wahl gilt als eines der höchsten Güter unserer Demokratie.
Doch wie so häufig haben wir Menschen das Kunstwerk vollbracht, etwas zu schaffen, was uns eigentlich schadet. Denn wir haben mittlerweile jeden Tag so viele Entscheidungen zu treffen, dass wir überfordert sind. Müdigkeit ist die Folge und wer kennt das nicht: Wenn wir müde sind, sind wir nicht ganz wir selbst.
Was ist Entscheidungsmüdigkeit?
Nach etlichen durchdachten oder schweren Entscheidungen, die ein Mensch am Tag trifft, wird er irgendwann anfangen, weniger durchdacht zu entscheiden und zu handeln. Mehr beschreibt die Entscheidungsmüdigkeit eigentlich nicht.
In der Psychologie wird die Ironie dabei nicht verheimlicht: Menschen wollen immer so viel Auswahl und Freiheit wie möglich haben, doch je mehr Auswahl sie haben, umso weniger gute Entscheidungen treffen sie.
Bevor es um die Ursachen und vor allem die Konsequenzen (erhöhter Stress, Gefühl von Unzulänglichkeit) geht, noch ein kurzer Ausflug in die Psychologie der Wahl.
Was ist das Auswahlparadox?
Das Auswahlparadox (auch: Auswahlparadoxon oder Paradox of Choice) ist eng mit der Entscheidungsmüdigkeit verbunden. Sheena Iyengar und Mark Lepper stellten im Jahr 2000 eine Studie vor, die für dieses Phänomen am häufigsten herangezogen wird.
Herausgefunden wurde in der Studie, dass zu viel Auswahl beim Kauf von Marmelade dazu führte, dass die Kauflust der Kunden sank. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz griff diese Informationen auf und schrieb ein ganzes Buch dazu. Die Message: Je mehr Auswahl der Kunde hat, umso weniger ist er zum Kauf bereit.
Die Ursachen könnten unter anderem darin liegen, dass nicht mehr klar ist, wo die Unterschiede zwischen den Produkten liegen. Auch die Angst davor, die falsche Entscheidung zu treffen, kann lähmend wirken. Die offensichtliche Reizüberflutung kann müde machen.
Ursachen für Entscheidungsmüdigkeit
Wir Menschen haben nur eine begrenzte Menge an Energie pro Tag zur Verfügung. Wie viel Energie das ist, hängt von unzähligen Faktoren wie Alter, Persönlichkeitstyp, Schlafqualität oder Beziehungsstatus ab.
Wenn wir bereits früh am Tag einen Großteil dieser Energie – speziell mentaler Energie – abgeben, dann neigen wir dazu, später gereizter und weniger klar im Kopf zu sein. Wissenschaftler fanden unter anderem heraus, dass wir nach vielen anstrengenden mentalen Tätigkeiten (zum Beispiel Entscheidungen treffen), häufiger auf Tricks hereinfallen oder undurchdachte Kaufentscheidungen treffen.
Die Ursache für Entscheidungsmüdigkeit steckt also wirklich im Namen: Wir werden zu müde, um informierte und durchdachte Entscheidungen zu treffen.
Beispiele für Entscheidungsmüdigkeit
Steve Jobs, Barack Obama und Mark Zuckerberg haben etwas gemeinsam. Abgesehen von ihrer Macht, ihrem Einfluss und ihrem Geschlecht natürlich. Sie haben sich eine der ersten Entscheidungen des Tages von ihrer To-Do-List gestrichen: Kleidung raussuchen.
Jeden Morgen entscheiden sich Menschen dafür, was sie anziehen werden. Sie bedenken die Temperaturen, den Anlass, wen sie treffen werden, wie lange sie unterwegs sein werden, wie sie sich so fühlen…und verlieren bereits wertvolle Entscheidungsenergie. Und das jeden einzelnen Tag. Da wäre es doch clever, nur eine bestimmte Auswahl an Klamotten zu haben oder sie sich schon am Vortag bereitzulegen, nicht wahr? So einfach kann es sein.
Die Kombination vom ungehemmten Kapitalismus und dem Internet treibt den Begriff „Auswahl“ jedoch in neue Höhe. Es gibt keine einfache Wahl mehr. Jedes Produkt lässt sich für unterschiedliche Preise, in unterschiedlichen Farben, mit unterschiedlichen Features, mit unterschiedlichen Rezensionen, bei unterschiedlichen Anbietern, mit unterschiedlichen Paketdiensten, mit unterschiedlicher Lieferzeit kaufen.
Was im ersten Moment natürlich toll ist, hey, immerhin können wir genau das bekommen, was wir wollen, ist eigentlich eine Belastung. Denn wir müssen unglaublich viele Entscheidungen treffen – egal ob wir ein Smartphone kaufen, ein Shampoo wählen oder uns für ein Café entscheiden.
Und bei jeder Wahl schwingt so ein kleiner Zweifel mit, ob die Entscheidung auch richtig war. Ist dieses Studium wirklich richtig für mich? Hätte ich nicht lieber sparen sollen? Kann ich eine Familie gründen, obwohl ich meine Weltreise noch nicht gemacht habe? So viele Optionen…
Eines der beliebtesten Beispiele für Entscheidungsmüdigkeit ist jedoch etwas kleiner als „Soll ich eine Familie gründen?“, es ist der Autokauf. Wer selbst kein Experte ist, ist beim Autokauf darauf angewiesen, dass der Händler sein Wissen teilt. Und im Autohaus stehen dann wie viele Wagen? Sehr, sehr viele, die sofort ins Auge fallen.
Noch vor dem Betreten des Autohauses, noch bevor der Händler ein Wort sagen muss, ist der Kunde überfordert mit der Auswahl. Drinnen wird es dann natürlich nicht besser, denn die Wagen, die man sieht, sind selbstverständlich nicht alle, die verfügbar sind, und was ist mit der Farbe und der Ausstattung und, und, und…
Dort sitzt nun also der arme Autosuchende und denkt sich, wow, wie toll, so große Auswahl, doch er fühlt sich weder besonders selbstbewusst noch qualifiziert. Der Autohändler hat jetzt leichtes Spiel.
Was sind die Folgen von Entscheidungsmüdigkeit?
Wer entscheidungsmüde ist, ist nicht mehr in der Lage, die beste Entscheidung zu treffen. Das bezieht sich jedoch nicht nur auf den Autokauf, denn hey, wie oft kaufen wir schon ein neues Auto?
Auch der Alltag wird davon bestimmt. Wer die Kinder zu Schule bringt, zur Arbeit hastet, nach Hause fliegt, den Haushalt macht, ins Fitnessstudio geht, der hat so viele Entscheidungen getroffen, dass es nahezu übermenschlich wäre, sich abends auf der Couch nicht doch noch Schokolade zu gönnen.
Wie so häufig läuft es bei einem psychologischen Phänomen darauf hinaus, dass am Ende der Diagnose vor allem eines zu sehen ist: Stress. Wer unter Entscheidungsmüdigkeit leidet, der ist auch automatisch gestresst.
Denn die Welt hört ja nicht auf, uns Auswahl zu geben. Studium, Familie, Einkaufen, Hobbys – die Welt, in der wir leben, steht uns so offen wie nie zuvor, doch wir können mit der ganzen Auswahl eigentlich kaum etwas anfangen.
Das kann stressig sein, aber auch frustrierend. Denn es kann sich undankbar oder mangelhaft anfühlen, wenn man all die Freiheit nicht zu nutzen weiß. Dass unsere Gehirne darauf nicht ausgerichtet sind, auf so viele Eindrücke und Entscheidungen, vergessen wir dabei gerne.
Es gibt unzählige Methoden gegen Stress, doch das Vermeiden von Entscheidungsmüdigkeit kann ein guter Anfang sein. Zumal das eigentlich recht einfach ist. Zumindest im Vergleich mit anderen Stressmitteln wie Tabletten, Sport oder super teure Heilungs-Deluxe-Retreats.
Was hilft gegen Entscheidungsmüdigkeit?
Minimalismus.
Mehr nicht. Wer nicht müde werden will, muss die Auswahl verringern. Die Antwort darauf lautet, die Umwelt zu beeinflussen, damit die Entscheidungen verschwinden oder einfacher werden. Das gelingt mit Minimalismus.
Sofort schrillen bei einigen die Alarmglocken: MINIMALISMUS IST HEXENWERK! UNTERDRÜCKUNG! DIE WOLLEN MIR MEINE MARACUJA-MANGO-LIBELLEN-RHINOZEROSHAAR-SEIFE WEGNEHMEN!
Nein. Man muss kein Hardcore-Minimalist werden, um der Entscheidungsmüdigkeit zu entkommen. Kleine Schritte, besonders dort, wo sowieso regelmäßig gehandelt wird, reichen völlig aus:
- Den Kleiderschrank ausmisten
- Weniger Apps auf dem Smartphone haben
- Immer denselben Weg zur Arbeit/Schule nehmen
- Mahlzeiten im Voraus planen und alle Zutaten bereit haben
- Einkaufslisten schreiben
- Bei Netflix immer einen Film aus den Top10 wählen
- Entscheidungen auch mal auf morgen verschieben
Wer mehr darüber wissen möchte, sollte sich entweder die Dokumentation „Minimalism: A Documentary About The Important Things“ auf Netflix anschauen oder sich ein Buch wie Genug von John Naish gönnen.
(Achtung! Bei Amazon gehört das Buch Minimalismus von Konrad Sewell zu den Top-Empfehlungen, dahinter steckt kein seriöser Autor)
Es mag absurd klingen, doch ja, weniger ist mehr, wenn es um Auswahlfreiheit geht. Wir profitieren zwar davon, die Wahl zu haben, aber wir setzen uns damit auch unglaublich unter Stress. Da wir diesen auch auf dutzende andere Arten bekommen, sollten wir versuchen, ihn bezüglich der alltäglichen Entscheidungen zu reduzieren.
Denn sonst treffen wir vielleicht genau dort die falschen Entscheidungen, wo wir es auf keinen Fall verantworten können: Beim Job, bei Freunden, beim Partner… Entscheidungsmüdigkeit ist kein Phänomen, das wir nur auf unsere Kaufentscheidungen beziehen können, sie betrifft jeden Moment unseres Tages.
Introvertiert und gestresst? Auch dazu ist gerade ein neuer Beitrag erschienen:
Wie Introvertierte mit Stress umgehen (können)
Hallo Jennifer, danke für diesen tollen Artikel. Mich beschäftigt dieses Thema seit einiger Zeit sehr. Und es ist immer wieder spannend. Viele Dinge sind mir bewusst, aber wie Du sie in Worte gefasst hast, war echt toll.
Ich achte schon sehr darauf, dass meine Freizeit sehr spärlich verplant ist. Da mir meine Zeit für mich selber einfach zu wichtig ist. Ich wohne auf einem Dorf und es ist so wunderbar still dort. Ich kann in meinem Bett liegen und der Stille lauschen. Es ist herrlich.
Ich lese ja gerne viele Texte im Internet, aber auch da merke ich, dass es zu viele Informationen mit weiterführenden Links gibt. Natürlich will ich dann auch diese Links lesen. Oder auch Buchvorschläge. Mittlerweile habe ich schon eine etwas längere Liste mit Büchern, die ich alle noch lesen möchte. Und Deins aus diesem Artikel steht jetzt ganz oben:-).
Weißt Du, ich bin mir auch darüber im Klaren, wie wir beeinflusst werden bei Kaufentscheidungen, und dass das ganze Leben irgendwie eine Beeinflussung ist, und trotzdem fällt es mir so schwer, manche Dinge nicht zu kaufen. Vielleicht kann mir Dein Buch da weiterhelfen. Ich hoffe es sehr.
Viele Grüße von Annett
Moin Annett! Mir geht es da genau wie dir, wenn ich mich erst einmal in ein Thema reinarbeite, dann lese ich weiter und weiter und weiter…Da ist mein Kopf dann voll mit Informationen, aber wirklich produktiv oder sinnvoll ist das meist nicht. Digitaler Minimalismus ist also bei mir noch eine Herausforderung 🙂
Dass wir uns noch beeinflussen lassen, obwohl wir die psychologischen Tricks kennen, ist ärgerlich, aber kaum zu verhindern. Wir haben einfach nicht so viel Kontrolle über uns, wie wir uns gerne einreden. Auf der anderen Seite ist Information der erste Schritt, um nicht mehr völlig planlos zu sein. Ein weiteres Beispiel wären hier Countdowns oder „Nur noch für kurze Zeit“-Angebote. Sofern man nicht genau in diesem Moment etwas braucht, hat man eigentlich nie Druck, der wird nur künstlich erzeugt. Früher bin ich da auch häufiger in die Falle getappt, mittlerweile geht’s.
Viel Spaß mit dem Buch und den tollen Erkenntnissen, die man mit dem Minimalismus gewinnt! 🙂
Liebe Grüße