Der Mensch ist ein soziales Wesen: Trugschluss?

Dass der Mensch ein soziales Wesen ist, wird gemeinhin als gegeben angesehen. Wir brauchen Gemeinschaft, Austausch, Nähe. Doch ist die Sozialnatur des Menschen überhaupt für unsere moderne Welt gedacht?

Die Antwort lautet: nein. Wenn Wissenschaftler vom Menschen als soziales Wesen sprechen, geht es um die natürlichen Bedürfnisse, nicht im die kulturellen, die wir heute ständig befriedigen (müssen).

Gleichzeitig wäre es Unsinn, zu behaupten, wir bräuchten keine anderen Menschen in unseren Leben. Es mag Einzelexemplare geben, die sich wirklich nicht mit anderen abgeben wollen, doch Ausnahmen gibt es immer.

In diesem Beitrag wird es darum gehen, zu erklären, warum unsere soziale Entwicklung gar nicht mittels eines einfachen Satzes zusammengefasst werden kann. Außerdem wird gezeigt, wie durch die Fixierung auf soziale Kontakte Leid erzeugt wird, dessen sich viele Menschen überhaupt nicht bewusst sind.

Woher kommt die Idee, der Mensch sei ein soziales Wesen?

Menschen lieben leicht verständliche Erklärungen. Wenn etwas durch gesunden Menschenverstand erklärt werden kann, bleibt es nicht nur in Erinnerung, es wird auch nahezu unantastbar. Denn das Aufbrechen einer solchen Idee würde bedeuten, Logik, Verstand und die eigene Intelligenz zu hinterfragen.

Auch unser Sozialbedürfnis ist geradezu lächerlich einfach zu erklären:

  • „Alleine können wir doch gar nicht überleben.“
  • „Schon die Steinzeitmenschen haben in Gruppen gelebt.“
  • „Wer alleine ist, ist unglücklich.“
  • „Wir suchen insgeheim ständig Anschluss.“

Wissenschaft spielt also eine entscheidende Rolle. Denn Evolutionsforschung, Biologie, Verhaltensforschung, Geschichtswissenschaften – sie alle haben Beweise dafür, dass Menschen lieber mit anderen Menschen zusammen sind, als alleine zu sein, weil es ihnen auf verschiedenste Arten Vorteile bringt.

Kinder lernen beispielsweise durch den Kontakt zu anderen überhaupt erst, wie sie sein sollen – was Gefahren bedeuten, wie sie überleben, welches Verhalten gut ist und welches schlecht. Ein Kind ohne stabiles soziales Umfeld kann und konnte sich nicht anständig entwickeln (und musste früher dadurch häufig sterben) oder hat mangelhafte Fähigkeiten im Umgang mit anderen und sich selbst – ein klarer Nachteil.

Außerdem haben schon unsere Vorfahren in Gruppen gelebt, die ihnen das Überleben sicherten, nicht wahr? Der Rückruf auf unsere evolutionäre Entwicklung ist in diesem Kontext immer sehr wichtig. Denn wenn etwas in unserer DNA verankert ist, dann gilt es als gegeben. Warum das problematisch und zu kurz gedacht ist, erfahren wir gleich.

Yuval Noah Harari (mehr zu ihm weiter unten) schreibt dazu in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit:

„Die Aufzucht der Sprösslinge erfordert konstante Unterstützung von Verwandtschaft und Nachbarn. Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stamm erforderlich. Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt, die in der Lage waren, starke soziale Beziehungen einzugehen.“

Festzuhalten bleibt, dass es sehr logisch ist, den Menschen als soziales Wesen zu definieren. Arbeitsteilung, körperliche Nähe, Lernen, Sicherheit – all diese Dinge werden durch Zusammenhalt gefördert. Ein Mensch, der sich anderen verweigert, wird entweder alleine überleben müssen, weil er sich selbst von der Gruppe entfernt oder von ihr ausgeschlossen wird. Das kann nur Unglück bedeuten, ist doch logisch. Oder?

wie sozial ist der mensch

Warum unser Bild vom sozialen Menschen falsch ist

An dieser Stelle werden die Wissenschaftler unserer Zeit nicht etwa widerlegt. Die Quintessenz dieses Beitrags wird nicht sein, dass Menschen nicht sozial wären. Nein, es geht vielmehr darum, unser Wissen in einen anständigen Kontext zu setzen.

Denn „Der Mensch ist ein soziales Wesen“ wird zu gerne genutzt, um ruhigen und/oder introvertierten Menschen zu zeigen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Der Rückzug aus der Gesellschaft oder aus spezifischen sozialen Situationen kann nicht gut sein, da wir von Natur aus soziale Wesen sind.

Kontext, wir brauchen Kontext: Ein Mensch, der sich in einer Großstadt wie Berlin wohlfühlt, die circa 3,7 Millionen Einwohner hat (Quelle: Wikipedia), widerspricht seiner menschlichen Natur deutlich mehr als jemand, der auf einem Kuhdorf lebt.

Denn der Rückschluss, auf den sich so viele Menschen berufen, wenn sie sozial sein als menschlich sein beschreiben, bezieht sich gar nicht auf die moderne Gesellschaft. Wenn Wissenschaftler darüber sprechen, wie Gruppen und Gemeinschaften unser Überleben sicherten, dann geht es dabei um übersichtliche Zahlen, häufig sogar um weitestgehend durch Verwandtschaft geprägte soziale Bindungen.

Auch hierfür wird Harari herangezogen:

„Die hitzigen Debatten um die „natürliche Lebensweise“ des Homo sapiens übersieht einen ganz entscheidenden Punkt: Seit der kognitiven Revolution haben wir Sapiens keine natürliche Lebensweise mehr. Wir können lediglich aus einer verwirrenden Vielfalt von kulturellen Möglichkeiten wählen.“ (Anmerkung: Grammatikfehler übernommen)

Wir haben zwar durch Sprache, fiktionale Konzepte und Phantasiekonstrukte gelernt, in Großgruppen zu leben, doch das bedeutet nicht, dass das die beste Lebensweise ist. Ja, wir sind unseren Vorfahren überlegen, weil Unternehmen oder Festivals mit 10.000 und mehr Mitarbeitern oder Fans funktionieren können. Aber wenn es um persönliches Glück geht, dann laufen wir vollständig daran vorbei, was uns eigentlich ausmacht.

Der Stamm, also die übersichtliche soziale Gemeinschaft, war das, was uns Sicherheit und somit Zufriedenheit gab. Das moderne Leben hat damit nichts mehr zu tun. Wir haben täglich Kontakt zu hunderten oder gar tausenden Menschen, begegnen unzähligen Fremden, sind einer unglaublichen Zahl an neuen Eindrücken ausgesetzt.

Das ist eine entartete Form des Menschen als soziales Wesen. In Wahrheit geht es uns besser, wenn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, was wir zu erwarten haben und wer „zu uns“ gehört und wer nicht. Es geht um qualitative soziale Bindungen, nicht um quantitative.

sozialnatur des menschen

Der Mensch und seine Umwelt

Hinzu kommt, dass wir auch die Beziehung zu unserer Umwelt als zentralen Punkt für das Wohlbefinden anerkennen müssen. Es war einst überlebenswichtig, die Umgebung einzuschätzen und mit ihr zu interagieren. Wer eng mit der Natur zusammenarbeitete, erhöhte seine Chancen auf Überleben und Glück. Doch wer kann denn heute noch eine Vogelbeere von einer echten Mehlbeere unterscheiden?

Man stelle sich einfach mal vor, ein Steinzeitmensch würde in das moderne Hamburg teleportiert werden. Das Gehirn würde augenblicklich versuchen, potentielle Gefahren auszumachen, Schutzoptionen zu suchen und sich einer sozialen Gruppe zugehörig zu fühlen. Der Lärm würde die Ohren betäuben, die Bewegungen Panik verursachen, der Mangel an Natur vielleicht zu Lähmung aus Angst führen und jeder einzelne Mensch wäre eine Bedrohung.

(An dieser Stelle sei außerdem das Thema Hochsensibilität angemerkt. Die Forschung zu diesem Thema steckt noch in den Kinderschuhen, doch im Wesentlichen geht es darum, dass manche Menschen Eindrücke, Reize und Emotionen sehr viel stärker wahrnehmen als andere. Was häufig als Charakterschwäche dargestellt wird – „Hab dich mal nicht so“/“Sei mal nicht so empfindlich“ –, ist tatsächlich ebenso biologisch bedingt und muss somit bei der Frage nach einem „natürlichen“ Leben eingebunden werden.)

Wenn es also darum geht, herauszufinden, wie sozial wir wirklich sind, dann ist das schlichte Berufen auf vermeintliche Beweise aus der Evolutions- und Geschichtsforschung alles andere als befriedigend.

warum brauchen menschen gruppen

Welche Folgen hat der falsche Umgang mit dem Sozialen?

Sowohl introvertierte als auch extrovertierte Menschen können der „wahren“ Sozialnatur des Menschen entsprechen. In der Realität wird jedoch so gut wie jedes extrovertierte Verhalten belohnt, während introvertierte Eigenschaften wieder und wieder negativ konnotiert werden.

Letztlich muss die Schlussfolgerung sein, dass es nicht um die Quantität sozialer Kontakte geht, sondern um die Qualität. Feste und dauerhafte soziale Bindungen sind das, wofür wir geschaffen sind. Oberflächlichkeit, Massenkontakt und das Ausschalten von natürlichen Instinkten in einer eigentlich gefährlichen Umgebung haben uns selbstverständlich weit gebracht. Wissenschaft, Wohlstand, Kunst – dort, wo wir heute sind, wären wir nicht, wenn wir unsere Natur nicht in gewisser Weise überwunden hätten.

Doch macht uns das glücklich? Introvertierte und ambivertierte Menschen brauchen soziale Kontakte, die beständig sind. Sie wollen ihren Freunden und Familienmitgliedern (oder Partnern) vertrauen. Sie wollen in einem Stamm leben, den sie kennen und der sie schätzt.

Stattdessen kommt es wieder und wieder zu sozialen Extremsituationen. Im Kindergarten, in der Schule, im Studium, im Job, im Alltag. Überall werden die Begegnungen zahlreicher, aber nicht gehaltvoller. Somit fehlt es nicht nur an den Bindungen, die wir brauchen, wir werden mit den „falschen“ überschüttet.

Das kann zu einer Gegenreaktion führen. Denn dadurch fällt es unglaublich schwer, die soziale Energie an die richtigen Stellen zu lenken. Nach einem harten Tag auf Arbeit mit 100 Sozialkontakten wollen und können viele Menschen nicht mehr Freunde oder Familie treffen. Dann sagen sie sich selbst (und ihnen wird von anderen gesagt), dass mit ihnen etwas nicht stimmt oder dass sie eigentlich gar keine Lust auf Menschen haben – ein Trugschluss.

Nur sehr, sehr wenige Menschen wollen gar keine sozialen Kontakte haben. Kaum jemand verwehrt sich der Idee, dass Menschen soziale Wesen sind. Nur ist die moderne Welt für ruhige, introvertierte und psychisch labile Menschen so anstrengend und fremd, dass sie nicht wissen, wie sie überhaupt mit ihr umgehen sollen.


Das besprochene Buch von Yuval Noah Harari „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ kann ich übrigens sehr empfehlen. Natürlich kannst du auch gerne zu meinem Buch „Introvertierte Weltveränderer“ greifen.

sozial sein introvertiert sein

Ist der Mensch also ein soziales Wesen? Ja, absolut. Doch wir verwenden diesen Satz und die dahinterliegende Idee völlig falsch. Damit wird denjenigen geschadet, die noch sehr viel „natürlicher“ leben und auf wenige und starke Bindungen setzen anstatt auf viele und oberflächliche.

Sofern Zurückhaltung also nicht die Folge krankhafter Schüchternheit oder von Sozialphobien ist (mehr dazu: Kann man zu introvertiert sein?), gibt es keinen Grund, den Umgang mit anderen Menschen zwanghaft zu verändern. Und es wäre sehr schön, wenn wir und andere aufhören würden, uns das einzureden.

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