Bin ich charakterstark oder ein Selbstdarsteller?

Seitdem ich mich intensiver mit Introversion beschäftige, werden Ideenansätze, die man früher schnell wieder verworfen hat, häufiger zu einem ganzen Geflecht an Überlegungen und Fragen. So auch die Erkenntnis aus Kapitel 1 des Buchs Still von Susan Cain.

Dort geht es um den Übergang von der Charakter- zur Persönlichkeitskultur. Cain platziert ihre These zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das tatsächliche Verhalten plötzlich hinten angestellt wurde, weil das wahrgenommene Verhalten in den Vordergrund rückte. Eine Entwicklung, die für uns Introvertierte eine echte Plage ist.

Charakter und Persönlichkeit: Was ist der Unterschied?

Wenn ich diese Frage innerhalb weniger Sätze beantworten könnte, wäre ich ziemlich schnell ziemlich beliebt unter Verhaltensforschern beziehungsweise Psychologen. Was genau Persönlichkeit und Charakter sind, wird nämlich nicht nur je nach Fachrichtung unterschiedlich bewertet, sondern erhält je nach Forschungsschwerpunkt ebenfalls eine eigene Definition.

Da jedoch hier erklärt werden soll, warum besonders die Entwicklung hin zur Persönlichkeitskultur ein Problem für uns Introvertierte ist, stelle ich es sehr einfach dar und in Anlehnung an das genannte Kapitel 1 aus Still.

Cain führt an, dass mit der Urbanisierung nicht nur wir Menschen, sondern auch unsere klassischen sozialen Gefüge gewandert sind. Statt wie auf dem Land in kleinen übersichtlichen Gruppen zu leben, in denen jeder jeden kannte und wusste, woran er ist, lebte man nun in anonymen Großstädten. Jeden Tag traf man neue Menschen, arbeitete mit Fremden und hatte Vorgesetzte, die es zu beeindrucken galt.

Damals wie heute hinterlassen wir jedes Mal einen Eindruck, wenn wir jemanden treffen. Das Verhältnis, in dem wir zu diesem Menschen stehen, bestimmt dabei unser Verhalten. Ein Kind begegnet einem Erwachsenen mit mehr Respekt als ein Erwachsener einem Kind (was ich übrigens für Unsinn halte, aber das sei an dieser Stelle nur angemerkt). Einem attraktiven Menschen schenken wir mehr Vertrauen als jemandem, den wir nicht attraktiv finden (Halo Effekt Studie). Mit Kollegen gleicher Gehaltsstufe gehen wir lockerer um als mit unserem Chef.

halo effekt

Dieses „Aushandeln“ und „Anpassen“ ist (nicht nur) heute selbstverständlich. Denn kaum einer lebt noch in einer kleinen Gruppe, in einem Gefüge, in dem schon jeder weiß, wer er ist. Früher jedoch wurde die Unterscheidung von Charakter und Persönlichkeit gar nicht so vorgenommen.

Denn wenn wir Charakter als das definieren, was uns ausmacht, unabhängig davon, in welchem Verhältnis wir zu anderen stehen, dann wäre das früher das Wichtigste auf der Welt gewesen. Moral und Charakterstärke waren einst Tugenden, die gesellschaftlich hoch anerkannt waren und natürlich auch durch Religion mitbestimmt wurden.

Doch mit dem Individualismus und Perfektionierungsdrang unserer Zeit gab es eine Verschiebung. Eine Verschiebung, die uns Introvertierten nicht zu Gute kam.

Charakter ist wichtiger als Persönlichkeit

Introvertierte reflektieren und verinnerlichen anders als Extravertierte. Ich behaupte, dass wir dadurch häufig charakterlich gefestigt sind. Wir denken viel darüber nach, was uns, was andere und was die Welt ausmacht, die uns umgibt.

Doch dann kommt diese Welt daher und sagt uns: Wie andere dich sehen, ist wichtiger als alles andere. Naja, seien wir ehrlich, motivierende Zitate auf Instagram und Facebook behaupten das Gegenteil. Doch jedes Jahr geben Menschen unbeschreiblich viel Geld aus, um attraktiver, motivierter oder erfolgreicher zu wirken, als sie wirklich sind. Passt nicht ganz zusammen, oder?

Mein Lieblingsbeispiel dafür ist die beliebte Aussage aus den USA, die wir längst übernommen haben: Fake it till you make it. Täusche es vor bis du es hast/bist. Darunter fällt unter anderem, selbstbewusst zu handeln, obwohl man sein Ziel noch gar nicht erreicht hat. Ich möchte nicht für alle Introvertierten sprechen, aber mir persönlich ist das ein Graus. Mich für etwas zu feiern, was ich noch nicht getan habe? Wie denn?

Ich will mich nicht größer machen, als ich bin. Ich trage ja nicht einmal gerne Absätze oder übermäßig viel Make-Up, weil ich denke, dass es das Bild verzerrt, das andere von mir haben. Gut, die Absätze lasse ich eigentlich aus zwei anderen Gründen weg: Man muss sich beim Laufen konzentrieren und bei einer potentiellen Zombieapokalypse wäre man im Nachteil. Aber darum geht es jetzt nicht.

Worum es geht ist, dass wir von klein auf lernen, lieber gut auszusehen, als gut zu sein. Jeder kennt doch den Mitschüler, Kommilitonen oder Kollegen, der immer viel erzählt und scheinbar höchst kompetent ist. Irgendwann merkt man jedoch, dass derjenige eigentlich nicht mehr Ahnung hat als man selbst – oder schlimmer noch, überhaupt nicht kompetent ist.

fake it till you make it

Dann fragt man sich verdutzt, warum jemand ohne Qualifikationen mehr erreicht. Weil diese Menschen durch ihre Persönlichkeit Defizite in Wissen, Fähigkeiten oder Charakter ausgleichen können. Etwas, was introvertierten Personen eher schwer fällt, weil wir viel Energie aufwenden, um überhaupt unter Menschen zu sein. Müssen wir uns dann auch noch stark verstellen, selbst wenn es uns einen Vorteil verschafft, dann sinkt die Energiereserve schneller als die Qualität von Game of Thrones nach Staffel 6.

Selbstdarstellung ablehnen: Geht das überhaupt?

Ja, ich denke, dass man den Fokus stärker auf Charakter als auf Selbstdarstellung legen kann. Die meisten Introvertierten tun das automatisch. Das Problem ist nur, dass wir uns gelegentlich dafür schämen.

Denn wer wird als kompetenter wahrgenommen: Der deutlich sprechende und vollkommen überzeugte Kollege oder derjenige, der viele Fragen stellt und mit einer Entscheidung eher abwartet? Leider häufig der erste von beiden. Er arbeitet schneller und effektiver und wie heißt es so schön: Es ist einfacher um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis. Also entweder es funktioniert und alles ist gut – was wir immer schon erwartet haben! – oder es funktioniert nicht und wir kümmern uns später um die negativen Konsequenzen.

Warum genau ist das gut? Das habe ich nie verstanden. Ich habe es schon immer bevorzugt, mögliche Probleme vorher zu bedenken und somit so viele wie möglich zu verhindern. Das heißt nicht, dass man nie ein Risiko eingeht. Man darf sich nicht so lange in Planung verlieren, dass man nie handelt.

Aber warum glauben viele Menschen, es wäre besser, einfach zu machen, anstatt gewissenhaft und vorausschauend zu arbeiten? Vielleicht, weil ihnen die Konsequenzen häufig egal sind: Wenn ich einen Fehler mache, fängt die Firma das schon auf. Nur weil ich bei der Gruppenarbeit etwas zu spät bin, ist das Projekt ja nicht komplett dahin. Klar musste der Autofahrer jetzt bremsen, weil ich bei Rot gefahren bin, aber mir ist ja nichts passiert.

Meist machen sich die Leute aber – meiner Meinung nach – einfach nicht die Mühe, einen Schritt weiter zu denken. Weil sie mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind, weil sie lieber ihr Zukunfts-Ich mit Problemen klarkommen lassen, weil es wichtiger ist, beim Arbeiten gut auszusehen, als tatsächlich gute Ergebnisse zu liefern.

Doch warum messen wir uns an fremden Standards und nicht an den eigenen? Auch darüber lassen sich ganze Doktorarbeiten schreiben. Dass Social Media unseren Selbstdarstellungsdrang nur noch verstärkt, darüber wird zu Genüge gesprochen. Ich möchte diesen Text optimistisch beenden – obwohl mir – wie jeder, der mich kennt, sicherlich weiß – Optimismus nicht unbedingt leicht fällt.

Introvertierte gehen mit gutem Beispiel voran

Achtung: Nein, Introvertierte sind nicht automatisch bessere Menschen. Einige von uns lügen, stehlen, betrügen, und und und. Darum soll es jetzt nicht gehen.

Worum es geht ist, dass wir mit unserer inneren Ausrichtung und unseren Pausen vom Trubel die Fähigkeit besitzen, unser Verhalten regelmäßig zu reflektieren. Wer ständig gestresst ist und von einer Begegnung zur nächsten hetzt, dem wird es schwer fallen, mitten drin noch festzustellen, wann er eine Rolle spielt und wann nicht. Die Vorteile der Introversion sind längst kein Geheimnis mehr.

echt sein

Bin ich jedoch in einer Gruppe mit Freunden unterwegs und spreche ständig über mein hohes Gehalt (wie sich das wohl anfühlt?), nur um dann nach Hause zu kommen und keine Sekunde mehr daran zu denken, wie viel ich verdiene, dann wird mir plötzlich klar, dass ich vielleicht gar nicht so viel Wert auf Materielles beziehungsweise die Bezahlung lege. Stattdessen mache ich meinen Job gerne, weil ich Menschen helfe – worüber spreche ich also beim nächsten Mal?

Das ist nur ein Beispiel. Doch dafür werden wir auch geschätzt. Wer introvertierte Freunde hat, der kann mit ihnen lange und tiefgründige Gespräche führen. Nach meiner Erfahrung ist man in solchen Gesprächen deutlich präsenter und ehrlicher, weil es nicht darum geht, wie man gesehen wird, sondern woran man wirklich glaubt.

Charakterstarke Menschen ändern ihre Meinung und/oder ihr Verhalten nicht im Bezug auf ihr Gegenüber. Das fällt leichter, wenn man regelmäßig Zeit außerhalb seiner sozialen Rollen verbringt. Das heißt nicht, dass man sich nie anpasst oder mal ein bisschen übertreibt, es heißt, dass man bestimmte Grundwerte hat, die man nicht aufgibt. Auch nicht, um einen anderen zu beeindrucken oder nur nicht zu verärgern.

Dieses Ideal wird in der Theorie noch immer sehr hochgehalten. Nennen wir jemanden einen Selbstdarsteller, dann meinen wir meist, dass er sich für zu wichtig hält und wenig Substanz hinter seinen Aussagen zu finden ist. Nennen wir jemanden charakterstark, dann ist das eher ein positives Merkmal.

In der Praxis ecken charakterstarke Menschen jedoch häufiger an und wer sich nicht gut verkauft, bleibt sowohl im Berufs- als auch im Privatleben oft zurück. Es wäre wünschenswert, wenn wir als Gesellschaft wieder mehr Wert darauf legen, wie ein Mensch wirklich ist und ob er seine Überzeugungen behält, auch wenn es schwierig wird.

Wie verhältst du dich, wenn dir niemand zusieht? Würdest du es (helfen, arbeiten, eine Meinung haben) auch tun, wenn es nie jemand erfährt? Bin ich nun charakterstark oder nicht?

Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Aber um ihnen auf den Grund zu gehen, muss man sich nun mal Zeit nehmen. Denn die von Cain angesprochene Persönlichkeitskultur ist für viele der Standard – schaut doch auf YouTube oder im Buchhandel mal, wie viele Ratgeber zur Persönlichkeitsentwicklung es mittlerweile gibt. Dann siebt die aus, die sich darum drehen, wie du einen besseren sozialen Stand bekommst. Viel bleibt da nicht übrig.

Sei attraktiver, sei erfolgreicher, setze dich durch. Da ist selten mal ein gutes Buch zu finden, in dem dir jemand erklärt, wie du dein Leben lebenswerter, nachhaltiger oder bedeutender machen kannst – ohne dabei die Bestätigung anderer zu suchen. Das große Geld liegt dort, wo die Leute eine schnelle Lösung erwarten. Und das, so leid es mir tut, zeugt nicht gerade von Charakterstärke.

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