Keinen Einblick in die eigene Psyche zu geben oder die persönliche Meinung nicht mit allen Menschen zu teilen, ist völlig in Ordnung – und doch für viele Menschen total unverständlich. Manch einer findet es sogar hochgradig unhöflich, wenn jemand nichts von sich preisgibt. Ist das berechtigt?
Es muss erlaubt sein, sich über ausgesprochen wortkarge und zurückhaltende Menschen zu wundern. Ja, zu wundern – nicht etwa aufzuregen. Dass jemand ein privater Typ ist, heißt nicht, dass du ihm oder ihr das ausreden müsstest. Aber wie gesagt: Ein wenig Verwunderung ist erlaubt.
Im Allgemeinen erwarten wir von bestimmten Menschen, dass sie sich zu Themen äußern und auch etwas Offenheit zeigen. Ein langjähriger Kollege, jemand im Freundeskreis oder auch ein potentieller Partner – es ist irgendwie komisch, wenn sich jemand stets bedeckt hält. Aber wenn du die möglichen Ursachen kennst, kannst du auch lernen, mit der Situation besser umzugehen – oder auch dich selbst besser zu verstehen, wenn du besonders zurückhaltend bist.
Wortkarg und verschlossen: Woher kommt das?
Es gibt unzählige Gründe dafür, dass jemand nichts über sich erzählt oder seine Meinung nicht teilt. Weil es nun mal extrem viele Persönlichkeitstypen gibt, die alle von individuellen Erfahrungen geprägt werden und sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich äußern. Aber eine grobe Unterteilung der Ursachen ist trotzdem möglich und sinnvoll.
Von Natur aus zurückhaltend
Wortkargheit ist per se nicht angeboren, aber es gibt bestimmte Voraussetzungen, die Zurückhaltung wahrscheinlicher macht. Introvertierte Menschen wenden sich eher ihrem Inneren zu. Das liegt unter anderem daran, dass soziale Situationen und Gespräche Energie kosten. Die Beobachterrolle fühlt sich daher oft angenehmer und natürlicher an.
Introvertierte sehen also vielleicht keinen Sinn darin, groß über sich selbst zu reden. Oder sie brauchen länger, um sich wohlzufühlen. Ebenfalls möglich ist, dass sie ganz einfach oft übergangen werden und nicht glauben, dass irgendjemand ernsthaft etwas über sie wissen wollen würde.
Auch Menschen mit sozialen Störungen können aufgrund bestimmter angeborener Eigenschaften (z. B. schwierige Reizverarbeitung oder fehlendes Verständnis von Gesichtsausdrücken) zu mehr Zurückhaltung neigen. Das fühlt sich sicherer und besser an.
Nur eine Gruppe Auserwählter erhält Einblick in die Psyche
Manche Menschen wirken reserviert oder schweigsam, sind es aber nur in bestimmten Situationen. So wie es soziale Schmetterlinge gibt, die überall dabei sind, jeden kennen und sich schnell öffnen, gibt es auch Menschen, die mit Fremden niemals auf Tuchfühlung gehen wollen. Was ist das Gegenstück zum sozialen Schmetterling? Eine antisoziale Schildkröte?
Wie wir diese Menschen auch nennen, sie sind sehr vorsichtig bei der Wahl ihrer engen Kontakte. Diese erfahren dann alles, was sie erfahren wollen. Tiefe Einblicke in die Psyche, Geheimnisse, Wünsche oder eben auch Meinungen sind kein Problem. Aber logischerweise sieht so eine Person für die allermeisten Menschen aus wie jemand, der nichts von sich preisgeben möchte.
Schlechte Erfahrungen führen zu mehr Vorsicht
Es gibt viele schlechte Menschen auf der Welt – und wenn sie ihre schlechten Eigenschaften an jemandem auslassen, dann entstehen Narben. Jemand, der für seine emotionale Offenheit einmal „bestraft“ wurde, wird sich erst einmal nicht mehr wohlfühlen, wenn er über Privates spricht.
Beispiele für schlechte Erfahrungen mit emotionaler Verletzlichkeit:
- Ein Freund nimmt Sorgen nicht ernst.
- Ein Kollege erzählt ein Geheimnis weiter.
- Ein Partner lacht über Fehler, Wünsche oder Probleme.
- Ein Elternteil bestraft die Darstellung von Emotionen.
- Ein persönlicher Beitrag (Text, Bild, Video, Song) wird auf Social Media zerrissen.
Die Liste könnte noch sehr lange weiter geführt werden. Doch klar ist: Es kann immer sein, dass Zurückhaltung die Folge von schlechten Erfahrungen ist. Aber es ist halt auch nicht richtig, diesen Grund immer und bei jedem zu vermuten. Gerade Introvertierte können schnell genervt sein, wenn du ihnen einreden willst, sie wären nur so ruhig, weil ihnen etwas Schlimmes wiederfahren wäre – ganz so einfach ist es meist nicht.
Der Kontext stimmt nicht
Nicht in jeder Situation ist das Reden über Privates angebracht. Das interpretieren Menschen manchmal unterschiedlich. Manch einer will mit seinen Kollegen befreundet sein, manch anderer nicht. Trifft Typus A nun auf Typus B, kommt es zu Missverständnissen. Nicht über Privates reden zu wollen, kann einfach an einigen Orten und in einigen Situationen unpassend sein – und ob das so ist, kann jeder für sich bestimmen.
Manchmal ist es auch nicht die konkrete Situation, die nicht passt, sondern der Zeitpunkt. Sich über Monate und Jahre hinweg auch etwas offener gegenüber einem Kollegen zu geben, ist für viele ganz normal – aber nach einigen Tagen im Job schon Kinderfotos zu zeigen und Wahlzettel zu vergleichen, ist einfach zu viel.
Gleiches gilt für romantische Beziehungen: Wer sich Hals über Kopf verliebt, will sofort Nähe. Braucht der Partner aber länger, um sich wohlzufühlen, die Gefühle zu verstehen oder nächste Schritte zu gehen, entsteht gleich wieder Spannung.
Die Geheimnistuerei ist Teil einer geheimen Identität
Es ist nie ganz auszuschließen, dass jemand nichts von sich preisgibt, weil er eine geheime Identität hat. Nur wirst du leider nie erfahren, ob es sich um einen verdeckten Superhelden oder Bösewicht handelt. Sorry. Pro-Tipp: Bitte die Person, ihre Brille abzunehmen.
Kollegen, die nichts Privates erzählen: Was tun?
Gehen wir erst einmal davon aus, dass du nicht mit jemandem zusammenarbeitest, der eine geheime Identität hat. Du fragst dich wahrscheinlich trotzdem, warum ein Kollege so dagegen ist, etwas über sich zu erzählen. Einige Gründe wurden ja bereits genannt.
Natürlich solltest du das respektieren. Nur was ist, wenn jemand für sich bleibt und ruhig ist, aber nicht klar ausdrückt, dass das so bleiben soll? Schüchterne Kollegen sind ein gutes Beispiel dafür – sie tauen meist nach und nach auf, wenn du richtig kommunizierst.
Auf keinen Fall solltest du zu viel Druck ausüben. Mach einfach deine Intentionen klar.
Sätze, die legitim Interesse an einem tieferen Gespräch verdeutlichen:
- Wir arbeiten schon eine Weile zusammen, aber ich weiß noch gar nicht so viel über dich …
- Ich habe dir ja schon von mir erzählt, aber was gibt es über dich zu wissen?
- Falls du dich damit wohlfühlst, kannst du mir von deinem Problem erzählen.
- Ist es okay, wenn ich dich nach deinem Wochenende frage?
- Du kennst dich doch mit dieser Sache aus, woher kommt das?
Dein wortkarger Kollege ist keine Bierflasche und du bist kein Feuerzeug. Es macht nicht Klack und plötzlich ist er offen. Bekommst du einmal ein paar Infos und rennst dann sofort alle Türen ein, verschreckst du den armen Menschen wahrscheinlich sofort. Wenn es dir zu anstrengend ist, auf mehr Offenheit zu warten, dann lass es einfach – so wie dich dein stiller Kollege nicht dazu zwingen kann, deine Klappe zu halten, solltest du ihn nicht drängen, endlich einen Blick in sein Inneres zu geben.
Und bist du selbst der stille Kollege, dann lass dich nicht dazu drängen, etwas zu erzählen, was dir zu privat ist!
Sind Menschen, die keine Fragen stellen, automatisch schüchtern?
Schüchternheit kann die Ursache für fehlende Offenheit sein – muss sie aber nicht. Leider machen es sich die sehr sozialen und extrovertierten Menschen dieser Welt da oft ein wenig zu einfach. Jemand spricht weniger als der Durschnitt? SCHÜCHTERN! (Sirene geht los.) SCHÜCHTERN! (Fenster werden eingeschlagen.) SCHÜCHTERN! (Der Mensch wird über die Schulter geworfen und auf eine Party geschleppt.)
Du bist nicht interessant genug
Ich habe ja gerade erst erwähnt, dass es okay ist, wenn du dir nicht die Mühe machen möchtest, einen zurückhaltenden Menschen näher kennenzulernen. Es ist auch okay, wenn das umgekehrt ist. Manchmal bist du für jemanden den Aufwand nicht wert.
Und das ganz ohne Wertung. Klingt komisch, ist aber so. Jemanden nicht interessant zu finden, heißt nicht, dass man ihn hasst oder verurteilt. Findest du etwa jeden Menschen auf dem Planeten interessant genug, um dich in seine Psyche einzuarbeiten? Selbst wenn das so wäre, ist es wohl kaum umsetzbar.
Ist es Zurückhaltung oder ist es Arroganz?
Menschen, die nichts von sich preisgeben, sind manchmal einfach Arschlöcher. Solltest du immer Arroganz vermuten, wenn jemand still ist? Natürlich nicht. Aber diese Ursache für mangelnde Kommunikation gehört einfach zu dieser Aufzählung.
Manch ein stiller Zeitgenosse findet dich grundlos blöd, mag dein Gesicht nicht, hasst deine Meinung und hält sich für etwas Besseres. Es wird nicht über Privates gesprochen, weil du es gewagt hast, ein Gespräch zu starten, ohne vorher den Boden unter den Füßen der Person zu küssen.
Die Situation wird unterschiedlich interpretiert
Es klang bereits vorher einmal an: Manchmal reden Menschen aneinander vorbei. Oder interpretieren aneinander vorbei. Du denkst, jemand wäre dein Freund? Dumm gelaufen, für die Person bist du nur eine Bekanntschaft. Du hast romantisches Interesse an jemandem? Dumm gelaufen, die Person will nur eine lockere Freundschaft. Du denkst, deine Eltern sollten ehrlich zu dir sein? Dumm gelaufen, hier sind deine tief verankerten Bindungsängste.
Okay, das letzte Beispiel ist natürlich etwas heftig. Aber zwei (oder mehr) Menschen können dieselbe Situation völlig verschieden begreifen. Wenn du jemanden als extrem verschlossen wahrnimmst, hält er oder sie es für angemessenes Verhalten. Dein Bedürfnis nach mehr Nähe oder tiefgründigen Gesprächen ist nicht falsch, es deckt sich nur nicht mit den Bedürfnissen deines Gegenübers. Du kannst das ansprechen und vielleicht ändert sich etwas. Oder aber du musst damit leben, dass jemand für dich nie zugänglich sein wird.
Jemand ist schüchtern oder sozial gehemmt
Schüchternheit und soziale Hemmungen können es schwer machen, sich anderen zu öffnen und Vertrauen zu entwickeln. Das betrifft dann nicht nur dich, sondern generell scheint jemand eher vorsichtig oder gar ängstlich zu sein. Mehr dazu: Wie verhalten sich schüchterne Menschen?
Fazit: Nichts von sich preiszugeben, muss erlaubt sein
Unfassbar, das Ende des Beitrags ist erreicht und es gab keine kurze und perfekte Antwort auf die Frage, warum jemand nichts von sich preisgibt? Klingt ja fast so, als wäre es komplizierter, als wir beide dachten. Wie fühlst du dich damit? Möchtest du drüber reden?