„Du hörst mir schon wieder nicht richtig zu.“
„Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“
„Statt wieder eine viertel Stunde auf der Couch zu hocken, hättest du schon mal die Wäsche, den Abwasch, (hier beliebige Aktivität einfügen) erledigen können.“
„Stell dich nicht so an, du bist ja langweilig, jetzt komm mit tanzen!“
Vielleicht kommen dir die eben beschriebenen Zitate, oder zumindest ein Teil davon, bekannt vor. Jene Dinge begegnen uns introvertierten Menschen immer wieder im Alltag und genau diese Dinge sind es, welche uns im Beziehungsalltag regelmäßig vor alte und neue Herausforderungen stellen.
Ein Gastbeitrag von Oliver (mehr zu ihm auf comely-arts.de)
Eine neue Liebe
Du hast einen neuen Menschen kennengelernt, eine Persönlichkeit, die sofort interessant auf dich wirkt. Schnell spürst du die Bindung zu deinem, eigentlich noch fremden, Gegenüber. Für dich fühlt es sich an, als würdet ihr euch bereits seit Jahren kennen. Du schwimmst auf einer Welle der Hoch-Gefühle, alles scheint so leicht und unbeschwert. Da diese Gefühle so eindeutig sind, müssen sie es ebenso ja wohl auch für den Menschen sein, mit jenem du derzeit so viel Zeit wie möglich verbringst.
Aber müssen sie das wirklich?
Bindungsangst – die Sorge vor Ablehnung
So schnell wie deine Emotionen explodiert sind, so schnell folgen die Bedenken. Abends, wenn du (vielleicht noch) alleine im Bett zur Ruhe kommst, beginnt das Gedankenkarussell zu rotieren, du beginnst dir viele Fragen zu stellen:
Was, wenn er/sie doch nicht so fühlt wie du?
Wenn sie/er dich nicht so sehr mag, wie du sie/ihn?
Wie sollst du dich in Anwesenheit dieses Menschens verhalten und passt du überhaupt zu ihr/ihm?
Schnell bist du an der ersten Weggabelung angekommen und du musst dich entscheiden. Wie so oft fällt dir das schwer, denn du möchtest keinen Fehler machen, du willst das Wunderbare, all das was dein Leben im Moment erfüllt, auf keinen Fall verlieren. Vielleicht möchtest du einfach in dieser Situation alles tun, damit dieses Gefühl der Erfüllung nie wieder endet – eine mögliche Entscheidung, die Gefahren bergen kann.
Gefahr der Abhängigkeit – lass dich nicht ausnutzen!
Es ist weitere Zeit vergangen, ihr habt euch immer mehr kennen und lieben gelernt, euch daran gewöhnt, wie der jeweils andere „tickt“. Aber warst du wirklich du selbst? Kennt dein Partner wirklich DICH? Dich, so wie du bist, wie du wirklich sein willst?
Schnell entwickelt sich eine Art Routine, eine Spirale, aus selbiger du nur schwer wieder herauskommst. Du selbst, und insbesondere dein/e Partner*in, haben sich bereits an diesen Alltag gewöhnt. Wenn du deine Interessen nun stets hintenangestellt hast, schließlich wolltest du deine große Liebe in jedem Augenblick glücklich machen und keine Angriffsfläche bieten, wirst du unter Umständen feststellen, dass dein/e Partner/in es sich bereits in diesem „wohligen Nest“ gemütlich gemacht hat. Je nach Charakter deines Gegenübers kann das mit voller Berechnung geschehen sein, oder die bzw. derjenige hat sich schlicht und einfach daran gewöhnt. Schließlich kennt sie/er dich ja auch nicht anders. Insbesondere für Menschen mit narzisstischen Veranlagungen kannst du ein gefundenes Fressen sein. Einen Ausweg aus dieser Routine zu finden kann große Anstrengungen erfordern, in extremen Fällen sogar unmöglich sein, denn dein/e Partner/in muss dich, je nach Ausmaßen des Ganzen, nun völlig neu kennenlernen.
Gegensätze ziehen sich an
Dabei ist es doch ein großer Irrglaube, dass Menschen total gleich sein müssen, um sich zu gefallen, um miteinander klarzukommen. Denn für beide Seiten innerhalb der Partnerschaft kann das „Anderssein“ als der Gegenüber eine große Chance bieten. Das Leben bringt uns durchaus in Situationen, in welchen wir uns selbst im Weg stehen. Dein Partner macht beispielsweise einen Aktivitätsvorschlag, aber sofort sträubt sich alles in dir. Du sagst dir: „Nein, das ist auf gar keinen Fall was für mich, das passt doch gar nicht zu mir, ich mach mich doch hier nicht zum Affen!“ Aber hast du Aktivität X überhaupt schon einmal ausprobiert? Sich seinen Ängsten zu stellen, kann sich lohnen und große Überraschungen parat halten – natürlich alles im Rahmen der persönlichen Grenzen.
Chancen der Weiterentwicklung
Nehmen wir das Zitat aus der Einleitung als Beispiel:
„Stell dich nicht so an, du bist ja langweilig, jetzt komm mit tanzen!“
Oliver: Ich selbst habe mich immer und immer wieder gesträubt. Habe mich unsicher gefühlt, beobachtet gefühlt, wollte nicht auf dem „Präsentierteller stehen“. Ich war der, der immer am Rande stand und auf die Getränke der Anderen aufgepasst hat. Bis ich mich eines Abends dann, die Atmosphäre dieses speziellen Abends gab mir wohl Sicherheit, spontan doch mit ins Getümmel wagte, um schnell festzustellen, dass das ja gar nicht weh tut – im Gegenteil. Es hat richtig Spass gemacht. Sich der Musik komplett hinzugeben, hat Emotionen in mir geweckt, welche ich so bis dahin noch gar nicht kannte.
Natürlich ist das nur EIN Beispiel unter gefühlt Millionen Dingen, welche die Welt bereit hält. Die Entscheidung, ob du bereit bist, deine persönliche Komfortzone zu verlassen, oder ob das jetzt gerade doch alle deine Grenzen sprengen würde, liegt am Ende ganz bei dir.
Verständnis beruht auf Gegenseitigkeit
Du hast nun also vielleicht einen Partner an deiner Seite, der deutlich extrovertierter ist als du. Manchmal, du hast schon relativ früh am Tage dein Energielevel überschritten, fühlst du dich bedrängt, gar überfordert, weil dein/e Freund/in voller Tatendrang strotzt und dich motivieren will, mitzuziehen. Aus Trotz schaltest du auf stur – denn du möchtest einfach nur deine Ruhe haben, ein bisschen Zeit mit dir selbst verbringen. Du fühlst dich missverstanden – wieso sieht sie/er nicht, wie es dir gerade geht? Hast du dich aber in einer solchen Situation schon mal gefragt, wie es deinem Gegenüber jetzt gerade geht? Schnell vergisst man (in Rage innerhalb der Situation) das Verständnis, welches man sich von seinem/seiner Partner/in wünscht, teilweise gar fordert, eben auch selbst für ihn/sie aufzubringen. Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass du nun wieder deine Gefühle und Interessen zurückstellen sollst.
Kommunikation ist Alles
„Eine Beziehung wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“
Kenneth Branagh
Anstatt nun deine Interessen und Gefühle zu äußern, spricht der typische Intro aus dir – oder auch nicht, denn du verstummst und verabschiedest dich alleine in dein Inneres. Was man selbst jetzt schnell wieder vergisst, ist das eben beschriebene gegenseitige Verständnis – denn möglicherweise stößt du damit jetzt deinem Gegenüber vor den Kopf, weil er selbst nicht einordnen kann, warum du so reagierst.
„Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.“
William Shakespeare
Vielleicht bringst du beim nächsten Mal deine Gefühle zum Ausdruck, teilst deine Emotionen und Gedanken mit deinem Partner. Nur so hat er überhaupt die Chance, zu wissen, warum du reagierst, wie du eben reagierst. Dass dein Energielevel je nach Tagesform limitiert sein kann und es eben nichts mit Desinteresse an ihr/ihm zu tun hat, wenn du ein bisschen Zeit für dich allein forderst.
Streitkultur
Für dich ist das, was gerade geschehen ist, eine totale Lappalie, aber dein Gegenüber explodiert förmlich und geht an die Decke, verschafft ihren/seinen Emotionen Luft. Du erschrickst, weißt nicht so richtig, wie du reagieren sollst. Warum regt sie/er sich denn jetzt so auf? Es ist doch gar nichts passiert? Streiten raubt dir in schnellster Zeit all deine Energie. Du möchtest nur raus aus dieser unbehaglichen Situation. Im Eifer des Gefechts vergessen beide Seiten schnell wieder die wichtigen Grundregeln der gemeinsamen Kommunikation. Insbesondere in Streitsituationen hilft es manchmal, zumindest den Versuch zu wagen, zu verstehen, was denn da gerade deiner/deinem Partner/in die Hutschnur platzen lässt. Das direkte Luftmachen der eigenen Emotionen kann sogar, im Nachhinein betrachtet, von Vorteil sein. Verhindert es doch das Aufstauen von zu viel negativer Energie. Doch sollte immer der gegenseitige Respekt gewahrt werden. Niemand, auch ein Beziehungspartner nicht, hat das Recht, sich über deine Würde hinwegzusetzen und dich zu erniedrigen.
Mein persönliches Fazit
Beziehung kann anstrengend sein, kann einen an die Grenzen seines Energielevels treiben. Sie bedeutet ständige Arbeit – Arbeit von beiden Seiten. Es bedeutet Zugeständnisse machen. Von beiden Menschen. Sind aber beide Seiten dazu bereit, in das gemeinsame Glück zu investieren, so wird eine zwischenmenschliche Beziehung dein Leben mehr als nur bereichern können. Wenn du selbst dafür offen bist und dich Neuem gegenüber nicht komplett verschließt, kannst du viel von deinem Gegenüber lernen und Erfahrungen sammeln, die dir vielleicht sonst komplett verwehrt geblieben wären. Beide Persönlichkeiten können voneinander profitieren und sich weiterentwickeln. Dein/e Partner/in kann dir Sicherheit geben und dir dabei Helfen Grenzen, zu durchbrechen, Grenzen, welche für dich überwindbar sind, was du alleine vielleicht aber nie für möglich gehalten hättest.
„Geteiltes Leid ist halbes Leid“ heißt es – aus eigener Erfahrung ist da viel Wahres dran. Doch verliere dich und deine eigene Persönlichkeit nie selbst aus den Augen.
„Beziehungen sind eine Rutschbahn nach oben.“
Karl Farkas
Anmerkung: Oliver hat mit seinem Text persönliche Erfahrungen verarbeitet. Diese Chance sollen viele Introvertierte hier erhalten. Allerdings gibt es neben Erfahrungsberichten wie diesem auch zahlreiche Beiträge, die introvertierte Themen und Probleme in einen sachlichen Zusammenhang setzen. Bitte lest neben den Erfahrungsberichten auch immer die recherchierten Artikel, um ein besseres Bild von Introversion und den zugrundeliegenden wissenschaftlichen Hintergründen zu erhalten, beispielsweise: Wann wird Introversion zum Problem?, um zwischen introvertiert sein, Schüchternheit und Sozialphobien unterscheiden zu können.